Le Pen glücklich in der Opferrolle

Der französische Präsident sagt das Fernsehduell mit seinem Gegner ab. Das stößt ebenso auf Kritik wie zahlreiche andere Aktionen der Gegner des rechtsextremen Kandidaten. Der ist wieder einmal in der Opferrolle gelandet, die er gut beherrscht

aus Paris DOROTHEA HAHN

Wenn sich die „Wahl“ bei der Besetzung von Frankreichs wichtigstem Amt auf die Alternative „zwischen einem Betrüger und einem Nazi“ beschränkt, ist nichts mehr so, wie es war. Da mobilisieren Linksradikale und Linke für eine Stimmabgabe zugunsten jenes rechten Politikers, da demonstrieren Schüler seit Tagen gegen ein demokratisch zustande gekommenes Wahlergebnis, da bildet sich eine prominent besetzte Bürgerinitiative mit dem Namen „Wenn ich das gewusst hätte …“ und will das Wahlergebnis annulieren lassen, und da fällt sogar das TV-Duell vor der Stichwahl aus, das sonst üblich ist. Jacques Chirac will nicht mit dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zusammentreffen. Begründung: „Eine Debatte mit der Intoleranz und dem Hass ist unmöglich.“

Wenn Chirac und seine politischen Freunde immer so konsequent gegen die Rechtsextremen vorgegangen wären, hätten weder Le Pen noch der zweite rechtsextreme Kandidat Mégret an der Präsidentschaftswahl teilnehmen können, bei der sie am vergangenen Sonntag zusammen 19,4 Prozent der Stimmen erhalten haben. Denn beide wurden aus dem Lager der gemäßigten Rechten unterstützt. Für ihre Kandidaturen zählen beide unter den 500 vorgeschriebenen Patenschaften auch Unterschriften von deren Lokalpolitikern.

Darüber hinaus liefern Historiker und antifaschistische Gruppen seit Jahren die Informationen über die Front National, die nötig wären, um ein Parteiverbotsverfahren einzuleiten. Die Bildung einer paramilitärischen Schlägertruppe und der systematisch vorgetragene gesetzeswidrige Rassismus sind nur zwei Beispiele dafür. Doch die Politiker der Mitte – Rechte wie Linke – wollten die Front National nicht verbieten. Sie wollten sie nutzen. Vielerorts kamen die Konservativen schon in den 80er-Jahren dank Allianzen mit der FN an die Spitze von Rathäusern. Und vielfach versuchte die PS, mithilfe der rechtsextremen Partei die bürgerliche Rechte bei Wahlen zu schwächen.

Kaum jemand glaubt heute daran, dass ein Dialog zwischen Chirac und Le Pen, die sich nicht nur politisch, sondern auch persönlich hassen, inhaltlich interessant sein könnte. Aber viele hätten es gern gesehen, wenn der einzige verbliebene republikanische Kandidat im TV Stärke gezeigt hätte. Jetzt wird die Geschichte die Runde machen, dass Chirac „Angst“ vor Le Pen hatte. Und dass der Rechtsextreme mit Handschellen für Chirac in das Studio kommen wollte.

Auch zahlreiche andere Aktionen der Le-Pen-Gegner sind in Paris heftig umstritten. So kritisieren rechte Politiker wie Balladur oder Séguin die Schülerproteste gegen Le Pen. Demonstrationen gegen demokratische Wahlen nennen sie: „absurd“.

Le Pen ist damit wieder einmal in die Opferrolle gelandet, die er meisterhaft zu nutzen versteht. Auf die Absage des TV-Duells reagierte er gestern mit: „Chirac bricht eine demokratische Tradition.“ Seine Mitarbeiter ergänzten: „Chirac will nicht mit dem Volk diskutieren.“

Eineinhalb Wochen vor der Stichwahl zwischen den beiden alten Männern ist das Ergebnis trotz der breiten Allianz der Chirac-Unterstützer – sie reicht von Trotzkisten über Grüne, Kommunisten und Sozialdemokraten bis hin zu Rechtsliberalen und Neogaullisten – unsicher. Auch, weil im Lager der Republikaner viele zögern, ihre Stimme abzugeben für einen langjährigen politischen Feind und einen, den sie mitverantwortlich für den Aufstieg der FN machen.