DER KOMMENTAR
: Und wer verteidigt die EU?

In der Europaschule in Brüssel versuchte am Montag die französische Geschichtslehrerin ihren Schülern zu erklären, welche Folgen ein Wahlsieg von Le Pen haben würde. Die französische Sprachsektion würde geschlossen. Die Sitze der französischen Abgeordneten im Europaparlament blieben leer. In der Kommission sprächen sie künftig nur noch Englisch miteinander. Unvorstellbar.

Natürlich wird es so weit nicht kommen. Doch die Neugier der Schüler hilft zu verstehen, was derzeit überall in EU-Ländern passiert: Das Votum für Haider, Berlusconi und Le Pen ist ein Votum gegen offene Grenzen, gegen die Schrecken einer sich verändernden Welt, gegen den europäischen Einigungsprozess.

Die Linken, von ihren neuen neoliberalen Führern enttäuscht, sind nicht so radikal, das Experiment EU beenden zu wollen. Doch sie sind immerhin so gleichgültig gegenüber dem europäischen Gedanken, dass er allein nicht ausreicht, sie an die Wahlurne zu bringen.

Und die Konservativen? Sie äußerten sich pflichtgemäß bestürzt über das Desaster. Gleichzeitig gaben sie sich in ihren Reaktionen auf den ersten Wahlgang in Frankreich nicht besonders viel Mühe, ihre Freude darüber zu verbergen, dass die sozialdemokratische Erfolgsphase endgültig zu Ende geht.

Anfang 1999 regierten in 13 der 15 EU-Staaten die Linken mit. Als bei der Europawahl im Sommer 1999 die Konservativen zum ersten Mal als stärkste Fraktion ins Europaparlament einzogen, ergab sich ihr Leidthema so fast von selbst: Der Wählerwille, der in diesem Ergebnis zum Ausdruck komme, werde bei jedem Treffen der mächtigen Regierungschefs mit Füßen getreten.

Überflüssig zu sagen, dass sich die rechten Abgeordneten über den Wählerwillen, der in über fünfzig Prozent Wahlverweigerung zum Ausdruck kam, weniger lautstark Gedanken machten. Überflüssig auch zu betonen, dass kein Mitglied der konservativen Fraktion sich dafür schämte, mit Berlusconis Leuten von der Forza Italia in einer politischen Familie zu sitzen. Erst dieser Trick, den sich Helmut Kohl und der Spanier José María Aznar ausdachten, führte dazu, dass die konservative Fraktion stärker als die sozialistische wurde.

Unvorstellbar – würden wahrscheinlich die Europaschüler sagen, wenn man ihnen die Tricks der Erwachsenen beschriebe. Die europäische Idee erleben sie täglich auf dem Pausenhof als chaotisch und bereichernd. Mit der sich verändernden Welt haben sie keine Probleme. Im Juli wird parallel zum Reformkonvent der Erwachsenen ein Jugendkonvent über Wege aus der Europaverdrossenheit nachdenken. Zündende Ideen werden dringend gesucht. Sonst gibt es statt der Erweiterung der EU am Ende noch einen Massenaustritt, wenn demnächst frisch gewählte Rechts-rechts-Regierungen ihr Wahlversprechen einlösen.

DANIELA WEINGÄRTNER