Zu Boden fallende Liebesbriefe

■ Gefühlswallungen in Standbildern: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ wird am Stadttheater Bremerhaven zu einem Herzkammern-Kammerspiel. Jetzt müssten nur noch die Männer so gut singen können wie ihre Kolleginnen

Ein junges Mädchen begegnet einem fremden Mann, dem sie auf der Stelle verfällt. Sie schreibt ihm einen flammenden Brief. Er, ein Dandy aus der Großstadt, weist sie kaltherzig ab. Jahre später sieht er sie wieder und begreift seinen Irrtum. Aber da ist es zu spät, die Frau ist in festen Händen und lebt in besten Kreisen, selbstbewusst folgt sie nicht mehr ihrem Herzen, sondern ihrem Verstand.

Lässt sich aus diesem wenig dramatischen Stoff eine Oper machen? Tschaikowsky hat es gemacht, aber er gab seinem – nach Alexander Puschkins Versroman enstandenen – Werk „Eugen Onegin“ vorsichtig die Gattungsbezeichnung „Lyrische Szenen“.

So wird es zur Aufgabe der Regie, aus den heftigen Wallungen der Gefühle, aus dem puren Glühen von Schmerz und Sehnsucht, theatralische Bilder zu entwickeln. Antje Lenkeit, die in Bremerhaven gerade mit einer packenden „Virginia-Woolf“-Inszenierung auf sich aufmerksam machen konnte, hat dafür im Stadttheater Bremerhaven einen stimmigen Weg gefunden. Sie übersetzt die Szenen der Oper in Standbilder, sie verzichtet auf alles folkloristische Dekor, auf nationalrussisches Pathos und auf wildbewegten Trubel. Sie macht aus „Eugen Onegin“ das Kammerspiel, das Tschaikowsky im Sinn gehabt hatte, ein Spiel, in dem sich Herzkammern öffnen und die Seele mit ihren vielfältigen Stimmungen zum Brennpunkt des Geschehens wird.

Der große Chor, der bei beiden Festlichkeiten – auf dem Land und in der Petersburger Schickeria – die Bühne bevölkert, wird konsequent in eingefrorenen und sehr wirkungsvollen Bildern vorgeführt (Choreografie: Bruno Mora). Antje Leinkeit verzichtet auf jeden dekorativen Balletteinsatz. Eine raffinierte Lichtregie strahlt die Protagonisten inmitten der zu schattenhaften Silhouetten erfrorenen Menge an.

Die Verwirrungen der Gefühle werden in einer exzessiven Nutzung der Drehbühne gespiegelt. Sie bleibt in Bewegung, während Onegin und sein Freund Lenski bei Tatjana und ihrer Schwester Olga auftauchen, so können sich in den wechselnden Räumen (Bild: Susanne Sommer) die beiden Paare elegant umeinander bewegen und voneinander lösen.

Die Bewegung als ein permanentes Um-sich-selber-Kreiseln ist konsequentes Grundmotiv der Regie. Wenn Onegin und Lenski sich – aus nichtigem Anlass – duellieren, kreiseln sie Rücken an Rücken, und bevor Onegin den Freund tötlich trifft, muss er sich nochmals in schwindelerregende Drehungen begeben.

Mit strenger Stilisierung begegnet die Regisseurin dem weitläufigen lyrischen Charakter der Szenen. Die strenge Form kippt manchmal ins Manirierte um, etwa, wenn überdeutlich immer wieder Liebesbriefblätter zu Boden fallen oder auf einen verdorrten Ast gesteckt werden (was Jorgen Talle als Lenski das Singen seiner Arie ziemlich erschwert).

Im letzten Akt sitzt sie am gediegenen Schreibtisch, eine elegant gekleidete Dame (Kostüme: Tomas Kypta), die ihren Schmerz versenkt und Onegin von sich stößt. So schön die Bilder, so präsent das Orchester, das unter der Leitung von Stephan Tetzlaff sowohl in den forciert genommenen Tanzsätzen als auch im lyrischen Schmelz überzeugen kann, so problematisch bleiben die Stimmen der Protagonisten. Weder Oskar Quezada als Eugen Onegin noch Jorgen Talle als Lenski (auch nicht Benno Ramling als Tatjanas Gatte Fürst Gremin) zeigen an diesem Abend die stimmliche Kraft und Schönheit, die Tschaikowskis Musik zum Glänzen bringt. Auch als Darsteller des sensiblen Dichters und des blasierten Großstädters bleiben sie bedauerlich blass.

Anders die vier Frauen, die schon in ihrem Eingangsquartett überzeugen, wenn sie im Salon ihres Landguts zusammensitzen und wie Figuren von Tschechow melancholisch in die Vergangenheit blicken: Katarzyna Kuncio als Olga, Maria Koler als Amme und Gerda Kosbahn als Mutter. Zwar muss Zoya Zheleva als Tatjana, sobald sie allein ist, wie eine Stummfilmdiva mit den Augen rollen und mit den Armen wedeln, aber dann erinnert ihre warme Stimme daran, dass ihr Gesang mehr ist als naive, kleinmädchenhafte Liebespein, es ist ein Gesang der unstillbaren Sehnsucht und des Schmerzes.

Hans Happel

Weitere Vorstellungen: 26.4., 9.5., 21.5. und 26.5.; Karten 0471 - 4 90 01 Tel.: