Chuzpe durch Kurzpass

Nach dem 2:2 bei Manchester United glauben Klaus Toppmöller und seine Leverkusener Kickernun endgültig, ein großes Team und nicht bloß eine ganz passable Fußballmannschaft zu sein

Klaus Toppmöller hatte es schon vorher gewusst. „Ich kenne meine Jungs“, verbreitete der Trainer von Bayer Leverkusen nach dem sensationellen 2:2-Remis im Champions-League-Halbfinalhinspiel bei Manchester United, „mir war nach dem letzten Wochenende klar, dass hier eine Trotzreaktion kommen würde.“ Allein dieser Satz sprach für die unglaubliche Rotznasigkeit, mit der die Mannschaft nach der Heimniederlage gegen Bremen nach Nordengland gefahren war. Keinesfalls wollten sie erneut eine Niederlage einstecken, wollten stattdessen das Gerede von einem zweiten Unterhaching endgültig verstummen lassen. Dass der Gegner Manchester United hieß, geriet da zur Nebensache.

Es war nicht anderes als eine veritable Sensation, die sich der Welt des Fußballs am Mittwoch in Old Trafford bot, in diesem von Bobby Charlton einst als „Theater der Träume“ bezeichneten Stadion. Mit einem breiten Kreuz und einem famosen Willen ausgestattet, hatten die Leverkusener zweimal einen Rückstand in einer Art und Weise aufgeholt, die ein großes Team von einer gewöhnlichen Fußballmannschaft unterscheidet. Zweimal zogen sie völlig unbeeindruckt weiterhin ihr fantastisches Kombinationsspiel durch und kamen so zu derartig klaren Möglichkeiten, dass eine Niederlage an diesem Tage im Bereich des Unmöglichen lag.

Nur in einigen Momente schimmerte jene Übermotivation durch, mit der das Leverkusener Spiel am vergangenen Samstag beim 1:2 gegen Werder Bremen noch in Unordnung geraten war. Etwa in der Szene, in der sich Lucio nach dem von Toppmöller und seinen Spielern als unberechtigt empfundenen Elfmeterpfiff gegen Zé Roberto den Ball griff und ihn vor lauter Frust wie ferngesteuert mit Überschallgeschwindigkeit in die Tribüne hämmerte.

Lucio fühlt sich immer persönlich gekränkt, entscheidet der Schiedsrichter gegen ihn oder will ihm gar jemand bei seinen atemberaubenden Sololäufen das geliebte Spielgerät abnehmen. Er verhält sich dann so wie ein Vierjähriger, dessen älterer Bruder ihm soeben das Eis geklaut hat. Erbost und aufbrausend eben. Glücklicherweise reagierte der Rest der Mannschaft nicht so wütend wie der Brasilianer, sondern abgeklärt, cool, auf die Chance lauernd. Wie eine europäische Spitzenmannschaft.

Diese von niemand zu erwartende Chuzpe der Leverkusener schockierte nicht nur das Publikum des nach eigenem Verständnis besten Klubs der Welt, sondern auch Weltstars wie Veron, Blanc und Scholes.

„Wir wirkten nervös in der Verteidigung“, konstatierte auch ein völlig konsternierter Manager Alex Ferguson hinterher, und das war eine gehörige Untertreibung angesichts der Machtlosigkeit, mit der seine Abwehr den fulminanten Angriffsoperationen etwa eines überragenden Yildiray Bastürks zusehen musste. Eine beängstigende Vorstellung muss es für ManU sein, dass der kleine Türke auch im Rückspiel mit seinen Dribblings und Pässen mühelos die Defensive zerschneidet.

Die unerwartet spielerisch betonte Spielweise Leverkusens scheint dem körperbetonten Spiel englischer Mannschaften nicht zu behagen. „Wir wussten, dass wir sie mit unserem Kurzpass-Spiel in Schwierigkeiten bringen würden“, meinte Toppmöller hinterher, so könnten sie ihre Zweikampfstärke nicht ausspielen. Und tatsächlich ließen die Kombinationen der Leverkusener kein Tackling der Engländer zu. Wie eine Fata Morgana musste das wirken.

Und dennoch hatte Alex Ferguson seinen Optimismus nicht verloren. „Eines ist sicher: Wir werden mindestens ein Tor schießen in Leverkusen“, so der Schotte, der unbedingt das Endspiel gegen Real Madrid in seiner Heimat Glasgow bestreiten will. Auch Toppmöller ist vorsichtig mit seinen Prognosen. Er weiß, dass „Manu jederzeit auch auswärts ein Spiel entscheiden kann“. Trotzdem muss Leverkusen, vor allem nach seinem furiosen Auftritt beim 4:2-Viertelfinalsieg gegen den FC Liverpool, nun als Favorit für das Rückspiel gelten.

Ein Fußballwunder und kein kleines wäre das, auch für die bislang immer verspotteten Leverkusener Fans. Sie hatten, wer hätte das je für möglich gehalten, am Ende die akustische Herrschaft in Old Trafford übernommen. So unglaublich war das gewesen,s dass sie sich fünf Minuten nach Ende trauten, mit „ManU, ManU - Ha, Ha, Ha“-Rufen die verblieben heimischen Fans zu verhöhnen. ERIK EGGERS

Manchester United: Barthez - Gary Neville (18. Phil Neville/88. Irwin), Blanc, Brown, Silvestre - Veron, Butt, Scholes (82. Keane), Solskjaer - Giggs - van NistelrooyBayer 04 Leverkusen: Butt - Zivkovic, Lucio, Nowotny (46. Sebescen), Placente - Schneider, Ramelow, Bastürk (77. Vranjes), Ballack, Zé Roberto - Berbatow (72. Neuville)Zuschauer: 68 000 (ausverkauft) Tore: 1:0 Solskjaer (29.), 1:1 Ballack (62.), 2:1 van Nistelrooy (67./Foulelfmeter), 2:2 Neuville (75.)