robin alexander über schicksal Verbrecher erkennt man an der Uniform

Wer in der Fremde etwas über Land und Leute lernen will, schaue sich das Verhältnis von Bevölkerung und Polizei an

Die Welt ist denen, die sich Telekommunikation und Flugtickets leisten können, bekanntlich nur noch ein Dorf. Auf einem Flug von Madrid nach Mexiko-Stadt sitzt vor mir und der Reisebegleitung meines Vertrauens ein Mexikaner, der zwei Straßen von uns entfernt in Berlin-Neukölln wohnt. Unseren Plan, sein Heimatland zu besuchen, findet unser Nachbar ausgezeichnet. Den klassischen Fehler auslandserfahrener Deutscher macht Antonio nicht: Obwohl er die Ferne schätzen gelernt hat, ist ihm die Heimat doch lieb geblieben. Seine kulturelle Identität ist intakt: Landschaften, Städte, Essen, Musik und Menschen: Alles sei fantastisch in seinem Mexiko, schwärmt er. Nur vor einem warnt uns der Mexikaner aus Neukölln: Vorsicht vor der Polizei! Im Millionen-Menschen-Moloch Ciudad de México gebe es täglich jede denkbare Form von Tot- und Mordschlag, die wirklich schlimmen Gestalten aber erkenne man sicher daran, dass sie eine Uniform tragen.

Wie ich in den folgenden fünf Wochen gewissenhaft prüfte, steht Antonio mit dieser Meinung tatsächlich repräsentativ für seine Landsleute – auch außerhalb der größten Stadt der Welt, von ihren Bewohnern seltsam technisch „el D. F.“ (sprich: el-de-effe) von „Districto Federal“, genannt.

Ein durstiger Mann etwa kann in jedem mexikanischen Ort eine „Cantiña“ besuchen. Dies ist eine besondere Art Kneipe, deren Eingang immer eine doppelflügige Schwingtür ist, wie wir sie aus Saloons in Westernfilmen kennen. Über dem Türrahmen hängt immer das gleiche Schild: „Eintritt verboten für Minderjährigen, Frauen und Uniformierte.“ Hier ist man wirklich fest entschlossen, sich den Spaß nicht verderben zu lassen.

Die Skepsis gegenüber den Organen der öffentlichen Sicherheit geht weit über Machos und Unterschicht hinaus. Eva M., eine dreiundzwanzigjährige Freundin, verdient gute Dollars als Angestellte der Leitung eines Sweatshops, der für „H&M“ und „Gap“ Kleidung näht. Auch ihre Umgebung in der Stadt Puebla ist dank des größten außereuropäischen VW-Werks wohlhabend. Eva hat also sozialen Vorsprung zu verteidigen und dokumentiert ein diffuses Bedrohungsgefühl unter anderem durch eine teure Alarmanlage und eine Katze, die „Security“ heißt. Die Idee, nach einem Einbruch die Polizei zu verständigen, scheint Eva trotzdem einigermaßen absurd.

Für Lateinamerikaner ist die Abwesenheit von Polizei eine zivilisatorische Errungenschaft. Wir hingegen kommen aus einem Land, in dem Landtagswahlen damit gewonnen werden, dass man hunderte von Neueinstellungen bei der Polizei und den Import von bayerischen Ordnungshütern verspricht. Marshall McLuhans Idee von der Welt als Dorf wird dementiert von den unterschiedlichen Erwartungen der Dorfbewohner dem Dorfsheriff gegenüber.

Ich weiß nicht, ob es in Kambodscha Landtagswahlen gibt und wie sie gewonnen werden. Aber ein reisender Kambodschaner erzählte uns, er habe nach der Ankunft im D. F. sechs mexikanische Polizisten nach dem Weg zu seinem Hotel gefragt. Sie wiesen ihn tatsächlich in die richtige Richtung, ließen sich diese Information aber mit vierhundert Dollar, seiner gesamten Reisekasse in bar, bezahlen. Nichtmexikanische Zuhörer reagierten auf die Geschichte des beraubten Kambodschaners entsetzt, Mexikaner versicherten ihm, er habe noch Glück gehabt. Wir wurden zum Verhältnis der Deutschen zu ihrer Polizei befragt und ernteten für unsere Berichte ungläubiges Kopfschütteln. Selbst im Polizeistaat DDR haben die Leute ihre Kinder angewiesen einen „Freund und Helfer“ anzusprechen, falls sie sich verirrt hatten. Heute redet man in Deutschland von „Zivilgesellschaft“ und ruft die Staatsmacht, wenn der Nachbar nach 22 Uhr dem Kapitalverbrechen CD-Hören frönt. In Mexiko hingegen trennt ein klares „wir“ und „die“ die Gesellschaft. „Die“ tragen eine Uniform und sind zu jeder Schandtat bereit. Und „wir“ sind die anderen, ausgeliefert, aber mit der moralischen Überlegenheit des potenziellen Opfers. Völlig durchhalten lässt sich diese Dichotomie allerdings nicht. Am Gepäckband, kurz bevor wir den Flughafen verlassen, gibt uns Antonio, unser mexikanischer Nachbar, seine Telefonnummer im D. F.: „Wenn ihr doch Probleme mit dieser schrecklichen Polizei kriegt, ruft mich an. Mein Bruder arbeitet da.“

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