Die Siegerin

Sie arbeitet auf sechs Quadratmetern. Mit Eimer und Lappen und Herz. Helga Schmidt ist „Klofrau des Jahres“. Heute bekommt sie den Preis

von WALTRAUD SCHWAB

Mit 63 hat Helga Schmidt, gebürtige Pankowerin, endlich einen Preis gewonnen. „Toilettenfrau des Jahres 2002“ ist sie geworden. Die Auszeichnung gibt es erst seit kurzem. „Aber mit die Olymp’schen Spiele hat es ooch klein anjefangen.“ Die Trophäe: eine wenig spektakuläre, funktionstüchtige Designerklobürste. Helga Schmidt wird sie auf das kleine Schränkchen stellen, das im Flur zwischen der Frauen- und der Männertoilette in der Hafenbar steht. In jenem Reich ist sie Seele und Königin. Es liegt im obersten Stock des Schlagerschuppens in der Chausseestraße. „So Siebzigerjahre werden hier gespielt“, erzählt sie und dreht sich leicht in den Hüften. „Nach dem Motto ,Du hast den Farbfilm vergessen‘, ‚Azzurro‘ oder ‚Knallrotes Gummiboot‘.“

Auf dem Schränkchen zwischen den Toiletten stehen Deo, Haarspray, ein Blumenstrauß, ein Heizlüfter, ein Tellerchen für die Cents. An dieses Möbelstück lehnt sich Helga Schmidt in ihrer frisch gewaschenen Schürze. Ein Stuhl und ein Eimer Wasser mit Lappen vervollständigen die Einrichtung auf den ungefähr sechs Quadratmetern. Hier oben empfängt die 63-Jährige ihre Gäste, bewundert deren Outfit, putzt hinter ihnen die Klobrille, gibt Ratschläge fürs Leben, hilft mit Lippenstift aus und flickt gebrochene Herzen. „Die möchten mit Du angeredet werden, die jungen Leute. Schon von unten rufen sie: ,Los, jetzt begrüßen wir unsere Klofrau!‘ Wunderbar sind die. Alt, jung, ich könnte ihre Oma sein. Manche bringen mir Drinks mit.“ Für Schmidt ist der Toilettenkosmos ein Hafen zur Welt der jungen Leute geworden. So wird aus den bis zur Augenhöhe blau gestrichenen Wänden dann auch ein Meer. Mit einer Schlangenlinie schließt es ab. Als wäre es eine Welle, die gegen den Kai schwappt. Selbst hier oben gibt sich die Hafenbar stilecht.

„Ich steh; die Leute sitzen auf dem Stuhl“, sagt die Schmidt. Dann wird erzählt. „Die Mädels fragen, was sie tun sollen. Mal Ärger mit den Eltern. Oder sie sind schwanger. Oder sie finden keine Lehrstelle. Die Jungs stellen mir ihre Neue vor, fragen, wie ich die finde.“ Die Klofrau kennt sich aus mit so was. „Und ein anderes Mal, wenn es dann nicht gut gegangen ist, wenn sie hier hocken und sagen: ,Alle Frauen sind Scheiße‘ oder: ,Ich hasse die Typen.‘ Dann sag ich, dass sich das schon wieder gibt. Irgendwo möchten die jungen Leute ihr Herz ausschütten.“ Bei Helga können sie es, denn sie mag, wenn sich was regt. „Wir machen hier in allet“, sagt sie. Freitags, wenn sie die Tasche packt, freut sie sich schon. „Es ist das Gefühl, man wird noch gebraucht. Wer hat das denn in meinem Alter? Die so alt sind wie ich, die haben’s doch nur mit die Tabletten und die Vergangenheit.“

Der Betreiber des Lokals kannte Schmidts Neffen, der Neffe fragte seine Tante. So wurde sie Klofrau. Einen Stundenlohn kriegt sie nicht. Ihr gehört, was die Gäste in die Schale legen. Pro Nacht vielleicht 50 oder 60 Euro. „Die Leute geben das freiwillig. Deshalb geb ich freiwillig was zurück. Handcreme oder Haarspray oder so.“ In ihrer Schublade hat sie zusätzlich, was an einem Ausgehabend gebraucht werden könnte: Parfüm, Schmerztabletten, Tampons, Taschentücher, Pfefferminzbonbons. Kondome auch. „Eigentlich hat das ja jeder bei, aber manchmal kommt einer, fragt: ,Haste mal?‘, und: ,Es hat sich so ergeben.‘ “ Ein in Pankow gelerntes Augenzwinkern kriegen die Anwärter auf die Liebe mit auf den Weg. „Geplatzte Hosennähte haben wir hier oben auch schon genäht.“ Die Klofrau hat Grübchen in den Wangen, wenn sie lacht.

„Junge Leute, det is schon schön“, sagt die Schmidt. „Ich freue mich, wenn die Mädels so schick ankommen.“ Für eine Sekunde wäre sie gerne noch einmal 23. Dann erinnert sie sich: „Aber wir hatten auch schöne Mode. Petticoats.“ Sie dreht sich, als hätte sie unter der Schürze einen an. Zum Tanzen jedoch sei sie nicht da, obwohl – ab und zu geht sie schon runter in die Bar. „Wenn die mehr auf l’amour tanzen würden“, würde sie vielleicht öfters. „So einen schönen jungen Mann im Arm“, der Rest des Satzes kommt als Augenaufschlag.

„Wegen det Leben“ macht Schmidt den Job in der Hafenbar, nicht wegen Geld. Von den Einnahmen kauft sie nicht nur die Extras, sondern auch das Toilettenpapier. „Früher hab ich das teuerste, das dreilagige, besorgt. Aber der Wasserdruck in dem alten Kasten ist nicht gut.“ Dauernd waren die Rohre verstopft. Jetzt nimmt sie Recyclingpapier. „Funktioniert wunderbar.“ Schmidt findet das Verhältnis von Geben und Nehmen in Ordnung. „Wenn man ’ne Toilette pachtet, muss man noch Strom und Wasser zahlen.“ Sie muss das nicht. „Außerdem, wer nimmt schon ’ne Alte?“

Helga Schmidt hat Berufsethos. Nach jeder Frau wischt sie die Klobrille ab. „Halt, erst icke, sag ich zu die Mädels.“ Sie wird belohnt für ihren Einsatz. Denn niemand wirft hier einfach was auf den Boden. Wenn Schmidt manchmal andere Toiletten sieht, denkt sie sich ihren Teil. Man müsse mehr „in Erziehung“ machen. Aber nicht besserwisserisch. Seit drei Jahren verbringt sie nun schon die Nächte von Freitag auf Samstag und Samstag auf Sonntag im Vorzimmer dieser Klosetts. Bis morgens um halb sechs, sechs Uhr bleibt sie. Weihnachten und Ostern auch. Nur bei Techno streikt sie mittlerweile. Da sieht’s hinterher schlimm aus.“ Dreimal hat sie es versucht. „Aber die Leute sind anders. Da kommste nicht ran. Ich weiß nicht, was die sich einschmeißen.“

Schmidt hat „auf Verkäuferin gelernt“, später aber im Kindergarten gearbeitet. 32 Jahre war sie in ein und demselben. Als der 1996 verkleinert wurde, mussten die Älteren gehen. Sie sollte „Springerin“ werden. Schmidt hat sich stattdessen mit Abfindung in die Arbeitslosigkeit entlassen lassen. „Mit 55 muss ich mir das nicht mehr antun: rumgeschickt werden.“ Aber nach zehn Monaten ist ihr die Decke auf den Kopf gefallen. Sie hat einen Job im Altenheim bekommen, danach ging sie in Rente.

Als Frohnatur bezeichnet sich die Klofrau, aber auch als nachdenklich und treu. 27 Jahre lang war sie mit einem zusammen. Ohne Trauschein. „Erst wollten wir nich, dann kam das Kind, dann wollte er nich, dann wollte ich nich, dann trank er auch ein bisschen ville Bier, und dann hatte man sich dran gewöhnt.“ Vor ein paar Jahren ist er gestorben. „Ich bin glücklicher Single. Ich will mein eigenes Reich.“ Nun macht sie „in Freundschaft“. Sie hat überall welche, ist immerzu unterwegs. Nächste Woche geht’s in den Friedrichstadtpalast. Ein Reisemensch aber sei sie nicht. Sie liebt Berlin. Im Klo der Hafenbar, oben auf der blauen Wellenlinie, allerdings hängen Urlaubsfotos aus Ceylon und Malta. Am meisten hat ihr das Meer dort gefallen. Blau – „als wäre ich in Litamin geschwommen“. Durchsichtig wie Fensterglas – „ich hab nach Muscheln getaucht, und wenn ich sie hoch geholt habe, waren se ganz klein. Hat das Wasser die beim Reinkucken so vergrößert.“

Die Hafenbar kennt Schmidt noch von früher. Da war sie ein- oder zweimal zu Ostberliner Zeiten „mit Freund, mit Kollektiv. Aber das war teuer und wir hatten ja auch nicht viel Geld. Unser Leben in der DDR war schwer“, sagt sie und kurz danach: „Jede Zeit hat ihre Schwierigkeit.“ Jetzt steht das Gebäude wohl „auf Abriss“. Solange ist hier Disko. Investieren in den alten Schuppen mache wenig Sinn. Der Club ist eine Mischung aus Hafenkneipe, Barkasse und Nostalgie. Fischernetze und Plastikkrebse, Steuerräder, Rettungsringe, Flaschenpost und Bullaugen. Dahinter, so weiß Schmidt noch, waren früher richtige Aquarien. Ab und zu zogen Fische vorbei: Schwertträger, Kiemensackwelse, Prachtschmerlen, Segelflosser.

Ohne dass sie es wusste, wurde sie in der Hafenbar inkognito von Spähern des „Toilettenfrau e. V.“ getestet. Der Verein will, dass den Klofrauen mehr Respekt gezollt wird. Deshalb haben sie den Preis ausgelobt. Helga Schmidt war die Beste. Humor, Orginalität, Service, Kundenfreundlichkeit wurden unter die Lupe genommen. Heute ist Party zur Preisverleihung. Medienpräsenz ist garantiert. „Dass ich mit 63 noch ins Fernsehen komme“ – Schmidt kann es kaum fassen. „Und die vielen Interviews!“ Nur dem Kurier gibt sie keins. Bei ihr in Hohenschönhausen, wo sie jetzt wohnt, kennt sie viele, die den lesen. „Ich will nicht, dass man hinter meinem Rücken tuschelt: ,Kuck mal, da ist die aus dem Klo.‘ “