Auf halbem Weg zwischen Asien und Europa

Aus dem Sozialismus aufgebrochen, aber noch nirgends angekommen – Usbekistan ist elf Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch auf der Reise. In Taschkent regieren Plattenbauten, in Buchara sagenhafte Moscheen – und im gottverlassenen Nukus regiert die Kunst der sowjetischen Avantgarde

Karim weiß Bescheid: Stoppschilder mitten im Nichts verlangen Respekt

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Der Traum eines jungen Usbeken ist es, Polizist zu werden. Die sowjetisch-graue Uniform verleiht Autorität. Und die braucht man in einem Land der fahrenden Händler und Eroberer, um sie sich meistbietend abkaufen zu lassen. So bittet Nasar, ein junger Polizist aus Taschkent, seinen Vorgesetzten um eine Gehaltserhöhung. Er braucht dringend mehr Geld, denn bald will seine Schwester heiraten. Der Chef geht in den Nebenraum und kommt mit einem Umleitungsschild zurück. Nasar weiß, was zu tun ist. Drei Wochen lang geht er mit dem Schild auf Jagd. Jeden Abend stellte er das Umleitungszeichen in einer anderen löchrigen Straße auf. Und bittet die ahnungslosen Autofahrer kräftig zur Kasse.

So unergründlich das sagenhafte Geflecht der alten Karawanenwege der Seidenstraße war, so einfallsreich sind die modernen Wege zu bescheidenem Wohlstand. Korruption ist dabei nur eine Spielart für die Menschen dieser Region, die sich die Freiheit nicht erkämpft haben, die sie aber teuer bezahlen müssen. Dabei ist die junge Republik im Gegensatz zu ihren Nachbarstaaten Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan nach der Unabhängigkeit 1991 weich gelandet. Erfolgreicher ist nur der Nachbar Kasachstan. Er hat Öl und fremde Geschäftemacher.

In Taschkent, der über zweitausend Jahre alten „Stadt aus Stein“, regiert der Beton. Plattenbauten und sechsspurige Boulevards dokumentieren die sowjetische Herrschaft. Nur die Fertigbau-Arabesken an den blätternden Fassaden lassen ahnen, dass hier der Orient beginnt und in diesen Breiten zur Idee vom Leben das Spiel der Formen und Farben gehört. Die 2,4-Millionen-Einwohner-Metropole hat eine U-Bahn und den Nightclub „Bahor“, in dem junge Russinnen allabendlich artig Cancan tanzen.

Vor der Glasfassade des neuen Bankentowers schlendern elegant gekleidete Frauen den mehrspurigen Boulevard entlang. Ein Stück weiter verkaufen Bäuerinnen vor den Schaufenstern von Internetagenturen und koreanischen Schnellimbiss-Bäckereien traditionelles Fladenbrot. Auf einer Bank im nahen Amir-Timur-Park küsst ein russischer Mann die hohen Wangen einer mongolisch anmutenden Frau. Vor ihnen reitet bronzen, den Arm zum Gruß erhoben, Tamerlan. Er ist das Symbol des neuen Usbekistan.

Amir Timur, der früher einfach Timur Lenk, der Lahme, genannt wurde, lebte im 14. Jahrhundert und war ein Nachfolger Dschingis Khans. Durch Plündern, Rauben und Brandschatzen erstritt er das größte Reich, das jemals in Mittelasien existierte. Mit stolzem Schauder erzählen die Usbeken ihren Besuchern heute, dass Timur in Bagdad eine Pyramide aus 90.000 Menschenschädeln errichten ließ. Die junge Nation verdankt dem Schlächter aber ein neues Selbstbewusstsein – und die prachtvollsten Bauten Zentralasiens: die mosaikbefließten Medressen und Moscheen von Samarkand, Buchara und Chiwa.

Timurs massiges Denkmal steht auf dem Sockel, der das Schicksal des Landes illustriert wie kein anderer Ort. Seit 1880, als Usbekistan unter die Herrschaft des Zaren fiel, stand hier der Gouverneur Kaufmann. Ihm folgte die Skulptur „Befreiung der Arbeit“, die 1940 für den Personenkult um Stalin geräumt wurde. Der wiederum wurde 1967 durch die ideologischen Urväter Marx und Engels ersetzt, die bis vor wenigen Jahren hier streng blickend beieinander standen. Usbekistan schwebt nun in einer Zeit, in der das Land der Karawanen selbst auf der Reise zu sein scheint: aus dem Sozialismus aufgebrochen, aber noch nirgends angekommen. Ein Polizeistaat, der sich Demokratie nennt. Ein Staatspräsident, der einst KP-Chef war und sich heute Volksdemokrat nennt. Eine Wirtschaft, die als privatisiert gelten möchte und doch alle Preise diktiert. Ein Land, in dem Kinder ihre Eltern ernähren müssen.

Safira findet nichts dabei, denn in den Straßen ihrer Heimatstadt Buchara gibt es viele von ihnen. Die Schulmädchen verkaufen tütenweise bunt bestickte Täschchen, Käppis und Jacken. „Let’s make business“, fordert Safira und preist in fließendem Englisch die rasch ausgebreitete Ware an. Zu Hause sticken Mutter und Großmutter, was die 14-Jährige mit Charme und Geschick an Touristen verhökert. Morgens geht Safira zur Schule, aber an den Nachmittagen verdient sie vor der Moschee Kalon das Geld, das ihre Familie zum Leben braucht. Der Vater ist Sportlehrer und erhält, wie alle Usbeken im Dienste des Staates, umgerechnet etwa 15 Euro im Monat. Als Safira spät am Abend nach Hause kommt, liegt der Vater vor dem Fernseher, die Mutter stickt im Schein einer nackten Glühbirne mit Goldfäden ein traditionelles Ornament auf eine Samtjacke. Sie ist stolz auf ihre Tochter und streicht ihr immer wieder über den Kopf. Safira zählt die Einkünfte des Tages. „Yeah, jetzt kann ich mir endlich eine Jeans kaufen“, jubelt sie und tanzt eine Runde Bauchtanz.

Viel mehr gibt es nicht, worauf sich Safira freuen könnte. Fast 70 Prozent der jungen Usbeken sind arbeitslos. Ihre Alternative lautet Baumwolle ernten oder Tourismus. Nur wenige der Perestroika-Generation haben ihren Weg von der Kolchos- in die Marktwirtschaft schon gefunden. Glück haben die, die aus der Neugier der Welt Kapital schlagen können. Denn schon längst ist den Usbeken klar, dass die himmelblau und grün gekachelten Lehmmauern, Paläste und Minarette der alten Seidenstraße einstweilen die Zukunft des Landes bedeuten.

Im Herzen Samarkands, zwei Fußminuten vom Registan, dem prächtigsten Platz Zentralasiens, entfernt, hat Furkat seinen Traum eines Luxushotels gebaut. 21 Zimmer auf drei Etagen hat der 40-Jährige mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Schnörkelige Treppengeländer, verspiegelte Fenster, handgeschnitzte Türen. Dahinter Stuckdekors und chinesische Tigerplüschplaids vor deckenhohen Kaminen aus imitiertem Marmor. Ein anrührender Entwurf von Wohlstand. In gebrochenem Englisch erklärt Furkat die Bedienung der Gasleitung, die den Kamin befeuert. „Kasachisches Erdgas“, murmelt er und dreht kräftig auf gegen die kalten Nächte Zentralasiens. Im ballonseidenen Jogginganzug saust der Selfmadehotelier dann von Etage zu Etage. Zimmer mit Blick auf das Bibi-Xanom-Mausoleum oder den Registan? Für 20 Euro die Nacht gibt es dazu ein deftiges Frühstück mit Omelett, Wurst und Kefir, Rosinen, Nüssen und Marmelade. Von der immer noch obligaten Registrierung der Fremden über Wodka und Geldtausch bis hin zu Überlandtaxen und Plow, dem heiß geliebten Nationalgericht aus Reis und Hammelfleisch – Furkat organisiert alles. No Problem in einem Land, wo eigentlich noch alles ein Problem ist.

Im staatseigenen Hotel Taschkent huschen Kakerlaken vor dem Besucher davon. In der Lobby sendet das Fernsehen Bilder von tanzenden, juchzenden Kindern. Bilder aus einer fröhlichen Welt, denen zwei karakalpakische Empfangsdamen gelangweilt folgen. Die fünf Weltzeituhren über der Rezeption sind zu unterschiedlichen Zeiten stehen geblieben, überhaupt hat der sowjetische Hotelklotz schon bessere Zeiten erlebt.

Die fünf Weltzeit- uhren sind zu fünf verschiedenen Zeiten stehen geblieben

Wie Nukus, die Stadt, deren öde Mitte er überragt. „Karakalpakstan unter touristischen Gesichtspunkten zu besuchen, ist nicht sinnvoll“, vermerkt der Reiseführer im letzten Kapitel lakonisch. Die autonome Republik mit ihren knapp zwei Millionen Einwohnern am westlichen Rand Usbekistans ist ein Wartesaal zum Tod geworden. Längst ist die einst blühende Region durch den vertrocknenden Aralsee zum Sterben verurteilt. Sand- und Salzstürme verseuchen Luft und Grundwasser.

Wenige wagemutige Touristen kommen dennoch in diese trostlose Stadt, reisen von Buchara aus 700 Kilometer über die Wüstenpiste, um sich den einzigen Schatz dieser vergessenen Tragödie anzuschauen. Es ist die Igor-Sawicki-Kunstgalerie. Als trotziges Kuriosum lagert hier unter bedenklichen Umständen eine einzigartige Sammlung sowjetischer Avantgarde aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Choresmischer Kubismus, Futurismus, Kosmismus und eine bislang unentdeckte zentralasiatische Moderne locken Kunstkenner in diese Einöde. Die provenzalischen Farbspiele, die die avantgardistischen Dissidenten in ihrem Refugium am Aralsee einst auf die Leinwände spachtelten, erzählen davon, wie grün und fruchtbar die Region einmal war. Ein sowjetisches Aix-en-Provence, heute „der Schmerz Usbekistans“, wie die Taschkenter Regierung bekennt.

Karim, der Fahrer, hat es eilig, seinen werksneuen Daewoo-Kleinbus aus dem salzverkrusteten Nukus herauszulenken. Tuberkulose, Islamisten und Habenichtse sind nicht das, was er Touristen vorführen möchte. Lieber kutschiert er sie zwischen den Perlen der Seidenstraße, von Samarkand über Buchara nach Chiwa, hin und her. Stunde um Stunde lenkt er den Wagen geduldig um die Schlaglöcher der zu Sowjetzeiten asphaltierten Überlandstraßen. Gelegentlich prangt das Konterfei des Präsidenten am Straßenrand. „Politik ist ein schmutziges Geschäft“, sagt Karim, mehr ist von ihm zum dem Thema nicht zu erfahren. Links und rechts der Strecke von Buchara nach Samarkand folgen Kolchossiedlungen auf Obstbaumplantagen und Baumwollfelder. In der gleißenden Sonne des zentralasiatischen Morgens türmt sich allmählich die hügelige Steppenlandschaft auf zu leuchtenden Schneegipfeln des Pamirgebirges. „Es passiert einfach nichts in diesem Land“, meint Karim und lacht. Wie zum Beweis tauchen am Wegrand immer wieder Kulissen zeitloser Ruhe auf. Sitzen Männer Tee trinkend auf ihren Tschorpojas zusammen, kniehohen, mit Teppichen gepolsterten Podesten, und schauen dem Verkehr zu. Von den Märkten kommen andere in Anzügen oder in knöchellangen, wattierten Halats. Frauen in geblümten Samtkleidern oder eleganten schwarzen Mänteln schwatzen. Wenn sie den Mund öffnen, reflektieren ihre goldbekronten Schneidezähne die Sonne.

Die Fahrt entlang der alten Seidenstraßenroute bis hinein in die Wüste Kisilkum wäre eintönig, wenn nicht der Staat mit Kontrollposten seine Wachsamkeit gegenüber Drogenkurieren und Islamisten dokumentieren würde. Karim weiß Bescheid. Ampeln und Stoppschilder mitten im Nichts verlangen Respekt. Schweigend hält er den Wagen an, bereitet die Papiere vor. Beim Wachtposten angelangt, stellt er den Motor ab, steigt höflich grüßend aus. Der grau Uniformierte, mit Kalaschnikow über der Schulter, guckt ziellos, aber unzufrieden ins Wageninnere. Dann drehen sich der Fahrer und der Beamte kurz weg, und weiter geht die Fahrt. „Wir haben da so eine Methode“, nuschelt Karim später. Bei jeder Kontrolle legt er unauffällig einen 500-Sum-Schein in die Autopapiere. Das sind rund 25 Cent für jede Kontrolle. Alle hundert Kilometer. Karim zuckt mit den Schultern. Durchkommen auf usbekisch.