: Im Trainingslager der Liebe
In ihrem neuen Stück in Wuppertal lässt die Choreografin Pina Bausch wieder die ganze Pracht ihres Ensembles schillern. Dabei lag ein Schatten über dieser Premiere: Wuppertal will sein Schauspielhaus anderweitig nutzen lassen und gefährdet damit die Fortsetzung der Arbeit von Pina Bausch
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Es gibt ein Zeichen für Kuss und es gibt ein Zeichen für Herz. „Haben Sie das jetzt verstanden?“, fragt die große Tänzerin streng ins Publikum. Den ganzen weiten Bühneraum markiert sie mit Kuss und Herz, Kuss und Herz: Ein Spielfeld der Liebe, in dem Pina Bausch in ihrem neuem Stück ihre Figuren immer wieder neu aufstellt, über zweieinhalb Stunden lang, ohne langweilig zu werden. Im Trainingslager der Liebe gibt man nicht auf. „Liebst du mich?“, fragt ein blonder Tänzer Nazareth Panadero, die jeden Satz, jede Bewegung mit einer Spur von Drohung unterlegt. „Vielleicht“, sagt sie. Sie umarmen sich, versuchsweise, für sechzig Sekunden. „Morgen noch mal“, sagt er, „vielleicht“, sagt sie. Entführt werden, verführt werden, geführt werden: Frauen werden geklaut, wusch, unter den Beinen ihrer Liebhaber weggezogen, wie man sonst ein Tischtuch vom Tisch zieht. Eine Frau wirft den Arm eines Mannes hoch in die Luft wie ein willenloses Ding, um dann die herabfallende Hand über die ganze Länge ihres Körpers gleiten zu lassen. Lust ist in diesen Miniaturen oft eine Sache der Passivität, der Faulheit und des Müßigangs. Die Zeiten, in denen Beziehungen hauptsächlich Arbeit machten und Geschlechterrollen kritisch überwacht wurden, sind vorbei auf der Bühne von Pina Bausch. Jetzt antwortet sie mit verschwenderischer Zuwendung auf eine Gesellschaft, die Emotionen immer mehr der Ökonomie der Effektivitätssteigerung unterwirft.
Die Kleinste der Tänzerinnen breitet ihre Arme aus. „Mein Raum, mein Boden, meine Fenster, meine Männer“; die ganze Bühne, das Ensemble und noch viel mehr umfängt der Bogen, den sie mit ihren Fingerspitzen andeutet. Von einer weltumspannenden Liebe träumt dieses Stück viel mehr als von jenem Besitz ergreifenden, abschottenden und die Welt eng machenden Gefühl, das im Alltag meist diesen Namen trägt. Dabei geht es auch um Genügsamkeit: Zufriedenheit mit sechzig Sekunden Umarmung, einem Blick oder einem hungrigen Schnuppern. „Du riechst so gut, nach Lammkotelett“, sagt er und fährt mit seiner Nase die langen Linien ihrer bloßen Arme und der Schultern ab.
Wasser, Luft und Sand kommen in kleinen Mengen zum Einsatz. Ein Mund voll Wasser reicht für eine kleine Dusche aus, eine Gießkanne, um aus dem leeren Bühnenboden kurz die Vorstellung eines Gartens blühen zu lassen. Eine Plastiktüte voll Luft, unter den Hintern geschoben und mit dem Gewicht des Körpers ganz langsam entleert, erzeugt die schönsten Seufzer, die Seele befreiend von allen Lasten. Eine Hand voll Sand, die ein Ehemann seiner Frau in den Schoß wirft, genügt als Bild, um sich die Taktik jahrelanger Vorwürfe und zugeschobener Verantwortungen auszumalen.
Fein wie der Sand sind diese Szenen gestreut. Getragen werden sie von einer Welle der Bewegung aus den solistischen Tänzen der Männer und der Frauen. Die Männer vor allem rennen über diese Bühne, um dann so nebenbei in die schönsten Tänze auszubrechen. Sie wirbeln um mehr als eine Achse, ziehen verschnörkelte Spiralen über den Boden und durch die Luft, drehen auf Füßen, über die Knie, rollen über Ellbogen, Hand- und Hüftgelenke, athletisch, akrobatisch, weich. In der Verknüpfung und Verflechtung ihrer Tänze ist das neue Stück von Pina Bausch auch eine ständige Hommage der Choreografin an ihr Ensemble. Sie nimmt die Farben, die Fähigkeiten und Widerstände, die jeder mitbringt, wie Geschenke an und lässt ihre Pracht auf der Bühne schillern.
Lange haben die Darsteller in ihren Stücken die Rolle des Künstlers, seine Haut, seine Leidenschaften und sein Fleisch zu verkaufen, mit kapitalismuskritischer Selbstironie hinterfragt – das war die Generation der Performer, die Pina Bauschs Tanztheater der anderen Art mit aufgebaut haben. Zur Attitüde ist dies nicht verkommen. Ihre Nachfolger profitieren von der Zertrümmerung alter Vereinbarungen und genießen den Auftritt mit unverhohlener Lust. Am Ende der Uraufführung im Wuppertaler Schauspielhaus versuchte das Publikum mit lang anhaltendem Applaus seine Angst hinwegzuklatschen, dass hier bald kein Tanztheater mehr stattfinden könnte. Vor der Türe wurden Flugblätter verteilt: „Werden Pina Bausch und das Tanztheater aus Wuppertal vertrieben?“, und Unterschriftslisten der „Initiative Schauspielhaus erhalten“ lagen aus. Hinter der Angst vor dem Kulturabbau liegt wie immer ein finanzpolitisches Problem der Gemeinde und eine erschreckende Wegwerfmentalität gegenüber ihrer Geschichte. Die Stadt Wuppertal steckt in einer Krise, 2001 sank das Gewerbesteuereinkommen um ein Drittel. Da kam Ende letzten Jahres die Wuppertaler CDU auf eine Idee, wie man den Kosten der seit langem anstehenden Sanierungen des Opernhauses in Barmen und des Schauspielhaus in Elberfeld, die mit 65 Millionen Euro veranschlagt sind, entgehen könnte: sanierungsbedürftige Standorte aufgeben und stattdessen mit erhofften Fördergeldern der geplanten „Regionale 2006“ ein neues Mehrspartenhaus bauen. Seitdem bangen die Bürger um ihr schönes Schauspielhaus aus den Sechzigerjahren, in dem man von allen Plätzen gut sieht und das den Besucher im Foyer und am Büfett mit Licht und Platz verwöhnt. Absurde Szenarien kursieren, ein Musicaltheater oder ein Teppichdiscount könnten hier einziehen.
Mehr aber noch als um den Verlust urbaner Qualität sorgen sich die Wuppertaler, ihr Stern Pina Bausch könnte die Stadt verlassen, wenn nicht mehr beide Spielorte zur Verfügung stehen. Seit fast 30 Jahren hat Pina Bausch ihre Stücke für das Opern- und das Schauspielhaus entwickelt, und dort nicht mehr auftreten zu können würde das kontinuierliche Weiterleben des Repertoires zerbrechen. Das lange Leben, das ihre Choreografien bisher entfalten konnten, ist eine große Seltenheit im Tanztheater. Die Neueinstudierung von „Kontakthof“ nach 20 Jahren mit Damen und Herren aus Wuppertal über 65 zeigte besonders, wie die Zeit die Stoffe verändert hat, neue Lesarten und Sinnschichten entstehen. Ensemble und Publikum sind an der Rezeptionsgeschichte gewachsen. Die Vertreibung von den alten Bühnen würde diesen Prozess zerschneiden und den Tanz wieder in die Geschichtslosigkeit drängen. In diesem Moment der Furcht, nicht nur vor einer ungesicherten Zukunft, sondern auch um die Weiterführung des in der Vergangenheit Geschaffenen, hat Pina Bausch ihr neues Stück „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ überschrieben.
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