kommentar: Unser Littleton
Es gibt Ereignisse, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verändern. Dann nämlich, wenn die Instrumente versagen, mit denen wir gewohnt sind Nachrichten einzuordnen. Wir verstehen furchtbare Verbrechen, wenn wir darin ein Motiv, einen Grund erkennen können. Wir nehmen oft routiniert Notiz von Schrecken, die sich weit weg, in Ländern mit höherem Gewaltniveau, ereignen. Aber was, wenn das Unbegreifliche vor unserer eigenen Haustür geschieht?
Was gestern in Erfurt geschah, sprengt unsere bisherige Wahrnehmung der Gewalt hierzulande. Die unkontrollierbare Gewalt jugendlicher Amokläufer, deren Bilder man bisher aus den USA kannte, bricht jetzt auch in die deutsche Gesellschaft ein. Die Bilder aus Erfurt erinnern an den Amoklauf in Littleton. Ihre Botschaft lautet: Es ist alles eine Welt. Und das ist vielleicht auch der Schlüssel, um diesen Amoklauf zu verstehen – zumindest ein bisschen.
Schon früher waren Schulen Orte von Racheakten in Deutschland. 2002 tötete ein Schüler in Bayern den Lehrer seiner Berufsschule. 2000 erschoß ein Schüler in Bayern den Direktor, der ihn von der Schule verwiesen hatte. 1999 erstach ein Gymnasiast in Sachsen seine Lehrerin.
Die Amokläufer waren keine unterprivilegierten Underdogs. Mit dem üblichen sozialarbeiterischen Instrumentarium sind diese Taten daher nicht zu erklären. Zielscheiben war die Institution Schule, verkörpert durch die Lehrer – so als sei dies der Ort, als seien dies die Personen, um für Kränkungen Rache zu nehmen.
Kränkungen gibt es immer, sie gehören zum Erwachsenwerden. Dass sich Kränkungen aber in Massenmord entladen – das kannte man bisher vor allem aus den USA. Bei uns hingegen, so das vorherrschende Gefühl, kann so etwas eigentlich nicht geschehen, bei uns sind doch auch die Waffengesetze viel strenger. Diese Selbstberuhigung gilt nicht mehr.
Wahrscheinlich wäre diese Tat nicht geschehen ohne die internationalen Vorbilder. Wahrscheinlich wäre der 19-jährige Täter schlichtweg nicht auf die Idee gekommen, nach einem Schulverweis schwarz gekleidet und mit einer Pumpgun bewaffnet in seine alte Schule zurückzukehren und 13 Lehrer zu liquidieren. Die Medien zeigen, was an realem Schrecken möglich ist – und liefern damit international Vorbilder für Gewalt.
Es gibt eine Globalisierung von Gewaltmodellen. Das ist die unheimliche Botschaft von Erfurt. Wir leben in einer Welt. Seit gestern ist sie auch für uns beängstigender geworden. BARBARA DRIBBUSCH
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