: Mein erster öffentlicher Auftritt
Das war aber auch keine Art, während des Vortrags einfach abzuhauen! Da blieb man doch wenigstens bis zur Pause. Das verlangte alleine schon die Höflichkeit: Wie ein Gummiknüppel den 1.-Mai-Redner ins Kopfwehland beförderte
„Tötet alle Bullen!“, rief ich gut gelaunt. Die Sonne schien, es war warm und der Hass war grenzenlos – was wollte man mehr! „Tötet alle Bullen!“, wiederholte ich fröhlich, „und wenn ihr sie trefft, schlagt sie auch noch tot!“ Die Zuhörer klatschten begeistert, und ich fiel vor Aufregung fast von der Bierkiste, die ich mir als Podest auf die Kreuzung Adalbert- Ecke Oranienstraße gestellt hatte: Mein erster öffentlicher Auftritt – es war der 1. Mai 1989.
Ein wenig musste ich wohl noch daran feilen, dachte ich mir, als ich sah, wie die Zuhörer jetzt zügig den Bereich verließen, obwohl ich noch nicht fertig war. Ich würde lernen müssen, sie an mich zu fesseln, die Aufmerksamkeit gleichmäßig hochzuhalten. Das war aber auch keine Art, mitten während des Vortrags einfach abzuhauen! Da blieb man doch wenigstens bis zur Pause. Das verlangte alleine schon die Höflichkeit. „Tötet alle Bullen, und wenn ihr sie totgeschlagen habt, trefft sie auch noch“, unternahm ich einen letzten vergeblichen Versuch, das flüchtende Publikum aufzuhalten, als mir ein Finger auf die Schulter tippte.
Ich drehte mich um. Genau genommen war das kein Finger, der mir auf die Schulter tippte, sondern ein Arm. Eigentlich auch kein richtiger Arm, sondern ein verlängerter Arm, ein Gummiarm, der verlängerte Gummiarm des Gesetzes. Viele sagen Schlagstock dazu. Der Ausdruck hätte irgendwie auch ganz gut gepasst, denn der Stock tippte genau genommen nicht auf meine Schulter, sondern schlug. Sogar ziemlich heftig schlug er. Streng genommen schlug er auch nicht auf meine Schulter, sondern volle Pulle auf meinen Kopf. Im Grunde drehte ich mich auch nicht um – ich fiel um. Ich war auf der Stelle bewusstlos. Dann träumte ich: Ich träumte davon, ein Prinz zu sein, der Prinz im Kopfwehland.
Wie alle im Kopfwehland hatte ich ständig Kopfweh. Nur mein Vater nicht, der König im Kopfwehland war und eine große Schatzkammer besaß, die bis oben hin vollgestopft war mit Aspirin, Thomapyrin und Paracetamol. Eines Tages würde ich das alles erben und dann, schwor ich mir, würde ich die ganzen Tabletten unter dem Volk verteilen, auf dass es nie mehr Kopfweh hätte. Ein paar würde ich natürlich für mich behalten, wegen meiner rasenden Kopfschmerzen.
Ich träumte, wie mein Vater hinter diese Pläne kam, böse auflachte und ein schwarzes Migränestäbchen auf meinem Schädel zerschlug. Dann schleifte er mich unter den wütenden Pfiffen und Schreien des ohnmächtigen Volks über den Asphalt und warf mich grob in eine bereit stehende Wanne. Dort lag ich auf dem Boden und hatte nichts als Kopfweh.
Als ich aufwachte, hatte ich leider immer noch Kopfweh. Die Wanne fuhr los und brachte mich und zwei andere Bürger des Kopfwehlands in die Gefangenensammelstelle an der Friesenstraße, die nach dem Turnvater Friesen benannt ist. Der hatte immer gesund gelebt und dementsprechend selten Kopfweh gehabt. Ich beschloss, von ihm zu lernen: Mein nächster öffentlicher Auftritt sollte erst zehn Jahre später erfolgen.
ULI HANNEMANN
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