Gesetz des Handelns

Ständig werden von Politikern entschlossene Taten verlangt. Das Innehalten fällt ihnen schwer

von BETTINA GAUS

Von „Verrohung tiefsten Ausmaßes“ sprach Edmund Stoiber in seiner ersten Fernsehstellungnahme – Minuten, nachdem das ganze Ausmaß der Tragödie bekannt geworden war. Dann fügte er hinzu, „heute“ verbiete es sich, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. „Aber morgen muss man fragen, ob wir nicht noch viel zu offen sind gegenüber jenen, die ihre Freiheit unglaublich missbrauchen.“

Morgen: Diese Zeitangabe hatte der Kanzlerkandidat der Union wörtlich gemeint. Offenbar im Gegensatz zu der Einsicht in die Notwendigkeit, Fragen zu stellen. Denn er kannte ja bereits die Antwort. Schon am Samstag forderte Stoiber ein sofortiges Verbot jugendgefährdender Videos und so genannter Killerspiele. „Was wir jetzt dringend brauchen, ist eine größere Intoleranz gegenüber der Darstellung und Verherrlichung von Gewalt.“

Schublade auf, Etikett gefunden, Schublade zu. In Krisen verraten Menschen viel über sich selbst – meist mehr, als sie es selbst wünschen. Manche zeigen, dass sie nichts so schwer ertragen können wie eine Situation, die nicht beherrschbar ist. In ihren Augen ist jedes Drama vermeidbar, wenn nur die richtigen Maßnahmen ergriffen werden. Das einzig gültige Gesetz ist das Gesetz des Handelns. „Die Umstände der Tat müssen schnellstmöglich aufgeklärt werden“, forderte PDS-Chefin Gabi Zimmer. Wer wollte da widersprechen?

Vielleicht ist es für Politiker besonders schwer, einen Augenblick innezuhalten im Angesicht einer – vermutlich – unabwendbaren Tragödie. Schließlich werden ihnen stets und ständig entschlossene Taten abverlangt. Aber für die meisten Menschen gehört das Wissen zum Leben, dass sich Katastrophen selbst bei größter Vorsicht nicht vermeiden lassen. Verkehrsunfälle gibt es. Und daran wird auch die strengste Polizeiüberwachung nichts ändern können.

Spitzenvertreter der rot-grünen Koalition haben in den letzten Tagen zu erkennen gegeben, dass sie nicht alle Probleme dieser Welt für grundsätzlich lösbar halten. Vielleicht lag das gar nicht in ihrer Absicht – und dennoch hat es mit manchen Fehlern der vergangenen Jahre versöhnt. Oder wollen wir uns von Leuten regieren lassen, die meinen, alle Abgründe der menschlichen Existenz ließen sich regeln?

„In tiefer Trauer“, stand auf der Schleife am Blumengebinde, das Kanzler Gerhard Schröder in Erfurt niederlegte. Sonst nichts. „In tiefer Trauer und fassungslosem Entsetzen“, schrieb Außenminister Joschka Fischer ins Kondolenzbuch. Beide sind an den Ort des Geschehens gefahren. Aber sie haben daran keine vermeintlich wählerwirksamen Äußerungen geknüpft. Alles nur Inszenierung? Stoiber ist nicht nach Erfurt gereist. Tut man ihm mit der Unterstellung Unrecht, dass er das Schweigen nicht ertragen hätte, das die einzig angemessene Reaktion zu sein scheint?

„Wir haben keine schnelle Antwort, wollen auch keine schnelle Antwort“, hat Bundespräsident Johannes Rau gesagt. Das gilt – parteiübergreifend – für die Nachdenklichen. Auch dem thüringischen CDU-Ministerpräsidenten Bernhard Vogel ist zunächst nicht viel mehr eingefallen als die Erkenntnis dessen, was jetzt nicht geschehen darf: „Wir können und wollen aus unseren Schulen keine Festungen machen.“ Nein, wirklich nicht. Darin ist sich Vogel übrigens einig mit SPD-Innenminister Otto Schily.

Der ließ ganz plötzlich erkennen, dass er sich vielleicht doch nicht grundsätzlich von seinem Rechtsverständnis früherer Jahrzehnte verabschiedet hat: „Der Täter hat sich selber umgebracht“, erklärte er zu einem Zeitpunkt, zu dem die meisten Fernsehreporter noch davon sprachen, der Täter habe „sich selbst gerichtet“. Hinter diesen Formulierungen verbergen sich Menschenbilder und Wünsche an die Justiz, die weiter voneinander entfernt kaum sein könnten.

Die Reaktionen auf Erfurt lassen sich nicht säuberlich nach Parteizugehörigkeit voneinander trennen. Der SPD-Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig hat eine Podiumsdiskussion demonstrativ verlassen, weil sich sein Widerpart, Stoibers Medienberater Michael Spreng, trotz der jüngsten Ereignisse nicht für ein Interview seines Chefs „entschuldigen“ wollte, in dem dieser die Arbeitsmarktpolitik der Bundeskanzlers heftig angegriffen hat.

Machnig fand, es stelle sich die Frage nach der charakterlichen Eignung, wenn jemand trotz der Ereignisse den Wahlkampf „mit großer Schärfe fortsetzt“. Meint er das ernst? Glaubt er, der Amoklauf eines Schülers in Erfurt müsse die Welt stillstehen lassen?

Was für ein Unfug. Vor einem Jahr starben im kenianischen Machakos 67 Kinder, nachdem zwei Jugendliche ihre Schule angezündet hatten. Die Ereignisse in Erfurt sind nicht einmal einzigartig. Nur traurig.

MITARBEIT: ALEXANDER KÜHN