Die Toten ausgraben

Noch immer suchen die Überlebenden im palästinensischen Lager Dschenin unter den Trümmern nach Vermissten

aus Dschenin SUSANNE KNAUL

Sie haben überlebt. Sie haben die Belagerung überlebt, sie haben die Kämpfe überlebt, sie haben die Besetzung überlebt. Sie haben überlebt, dass israelische Bulldozer auf ihrem Weg durch die engen Gassen die Fassaden ganzer Häuser eingerissen habe, deren Wohnungen jetzt abenteuerlich im Freien hängen. Sie haben überlebt, dass im Herzen des Lagers Dschenin eine Fläche, groß wie drei Fußballfelder, in einen Schutthaufen verwandelt wurde, dass es „aussieht wie nach einem Erdbeben“, wie die inzwischen standardisierte Formel der Beschreibung lautet. Am 3. April begann der israelische Angriff, am 18. zogen sich die Panzer aus dem Lagergebiet zurück.

Die Menschen, die jetzt in Dschenin unterwegs sind, um sich nach den Wochen der Ausgangssperre mit dem Nötigsten zu versorgen, sind erleichtert, dass sie überlebt haben. Mitarbeiter der UNO haben an fünf Punkten im Lager Tankwagen postiert oder provisorisch Rohre zu einer der Hauptleitungen, die noch intakt ist, verlegt. Die Leute kommen mit Eimern, viele erfrischen sich gleich unter dem fließenden Wasser. Den ganzen Tag über wirbelt ein heißer Wind den Staub in die Luft.

Der Staub ist es, weshalb die wenigen Leute, die auf dem zentralen Kampfplatz nach Angehörigen suchen, einen Mundschutz tragen, nicht der Gestank der verwesenden Körper. Nach vier Wochen riechen die Toten kaum noch; die Verwesung ist weit fortgeschritten.

Als wieder eine Leiche unter den Trümmern entdeckt wird, werden die Kinder weggeschickt. „Kommt doch helfen!“, ruft ein Mann einer Gruppe von Schaulustigen zu, die beschämt herbeieilen, um Steine abzutragen. Der Tote wird in einen weißen Plastiksack gelegt. Und dann doch zur Schau gestellt. Immer wieder öffnen Helfer den Reißverschluss, heben das Skelett, hoch, damit es jeder sehen kann.

Die Flüchtlinge sind allein gelassen. Sie graben mit Schaufeln, Hacken und mit den bloßen Händen. Eine britische Rettungsmannschaft verließ den Ort schon nach wenigen Stunden. Es seien keine Lebenden mehr unter den Trümmern, hieß es. Anwohner berichteten von „Schreien, die aus den Steinbergen kamen und die nach einigen Tagen verstummten“. Die Ungewissheit über das Schicksal der Vermissten treibt die Leute an weiterzusuchen. Noch zwei Wochen nach Beendigung der Militäroperation in Dschenin weigert sich Israel, die Listen der Verhafteten zu veröffentlichen, die den um ihre Angehörigen Besorgten Aufschluss geben könnten.

In Zweiergruppen gehen junge Freiwillige des Roten Halbmonds durch das Lager und markieren nach Auskunft der Anwohner auf der Erde und an den Ruinen Stellen, wo Minen und Sprengsätze vermutet werden. „Ich glaube nicht, dass hier noch etwas liegt“, sagt die 20-jährige Jalila Sarhan und sprüht einen roten Kreis auf die Erde. Sie holt einen Handzettel aus ihrer Papiertüte. „Vorsicht – nicht berühren – Sprengstoff“ und eine Bombe mit Zündschnur ist darauf abgebildet, damit es auch die Kinder verstehen. Im Lager herrscht Einigkeit darüber, dass es die israelischen Soldaten waren, die noch kurz vor ihrem Abzug die Bomben versteckten. Die Armee leugnet das strikt. Sie macht stattdessen die palästinensischen Widerstandskämpfer für die zurückgebliebenen Sprengsätze verantwortlich.

Suppe, ein halbes Hühnerschnitzel, Salat und ein Pitabrot liegen auf dem Blechtablett am Tisch von Saed Subchi Wahsh. Der 12-Jährige macht keine Anstrengungen, sich aufzusetzen, hält die Augen geschlossen und versucht zu schlafen. In seinem dünnen Arm steckt ein Infusionsschlauch. Vor ein paar Tagen hat ihm ein Sprengsatz die Ferse vom Fuß gerissen. Beine, Hände und Gesicht sind voll Brand- und Splitterwunden, die rotbraunen Locken angesengt. Saed weiß noch nicht, dass sein Freund Hani, der bei ihm war, als der Sprengstoff explodierte, im Sterben liegt.

„Die Leute sagen, dass die neuen israelischen Bomben einen Brennpuder enthalten“, erklärt Saeds um acht Jahre älterer Bruder Mohammed, der sich mit dem Vater am Krankenbett abwechselt. „Das ist es, was die Wunden in seinem Gesicht verursacht hat.“ Mohammed trägt eine Sportmütze mit der Aufschrift „Hoyas Georgetown“ und gestopfte Jeanshosen. Er steckt sich eine L&M-Zigarette an. Im Krankenzimmer steht die Luft. Obwohl die Fenster weit offen sind, stinkt es nach Urin und Schweiß. In dem einzigen kleinen Waschbecken kleben dicke Sand- und Dreckränder.

„Die meisten Patienten wurden in andere Krankenhäuser überwiesen“, sagt Dr. Naji Nasra, Chefchirurg im Krankenhaus von Jenin. Der 28-Jährige hat erst vor einem Jahr sein Medizinstudium in der Ukraine beendet. Bei fast allen, die er im Moment betreut, waren Finger oder Füße zu amputieren. Solange die Militäraktion andauerte, gab es „etwas mehr als einhundert Einlieferungen“. Rund 50 Leichen seien zunächst auf dem Krankenhausgrundstück begraben worden. Dass die von den Israelis immer länger hingehaltene UN-Untersuchungskomission die Wahrheit über die Geschehnisse im Lager ans Licht bringen wird, glaubt Dr. Nasra nicht. „Die Israelis haben viele Körper verschwinden lassen.“ Unter den Toten seien auch „Frauen und Kinder gewesen, soweit wir das noch feststellen konnten.“

„Sie bringen einen Märtyrer!“, ruft aufgeregt ein Besucher durch die Station. Vor der Notaufnahme haben sich bereits gut hundert Menschen versammelt. Der schmächtige, graugelbe Körper des 14-jährigen Nadal Fahruri liegt auf einer Bahre. Die Ärzte kümmern sich um seinen Freund, der einen Bauchschuss davongetragen hat und neben ihm liegt. Erst kurz bevor die Verwandten Nadals kommen, bindet ein Arzt das Leichentuch um den Körper und verschließt es mit einem Klebeband. Drei etwa 30-jährige Männer sehen in das Gesicht des blonden Jungen, beginnen zu weinen und verlassen eilig die Notstation. Nur ein Onkel bleibt bei Nadal, steht unentschlossen auf, setzt sich wieder hin. „Sie haben seine Schule umzingelt und auf die Kinder geschossen“, sagt er unter Tränen. In dem an Dschenin angrenzenden Nachbardorf Dschaba hatte die Armee einen Kämpfer der palästinensischen Tansim-Brigaden verhaftet. „Während der Operation ist es zu Zwischenfällen gekommen“, heißt es dazu lakonisch in einer Mitteilung der isrealischen Armee. „Es wurde keine scharfe Munition verwendet.“