„Ein ungeheurer Lebenswille“

Irgendwann soll es am Erfurter Gutenberg-Gymnasium wieder Unterricht geben. Aber der Neuanfang wird schwierig, sagt Kultusminister Krapp (CDU)

Interview CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Krapp, wie kann nach dem Amoklauf das Leben an Thüringens Schulen weitergehen?

Michael Krapp: Das Gutenberg-Gymnasium wird den regulären Unterricht vorerst nicht wieder aufnehmen. Die Schulgemeinde kann das einfach noch nicht. Wir haben sie daher zusammen mit Erfurts Oberbürgermeister Ruge ins Rathaus eingeladen. Dort stehen die ganze Woche Psychologen bereit, um mit Schülern und Lehrern über dieses schreckliche Ereignis sprechen zu können. Auch an den anderen Thüringer Schulen gab es gestern noch keinen Unterricht im klassischen Sinne.

Der Attentäter hat die AbiturientInnen mitten in den Prüfungen überrascht. Wie können diese Schüler ihr Abitur noch ablegen?

Ich will, dass die Schüler ohne unnötige Belastungen zu einem vollwertigen Abitur kommen. Das heißt, es soll von der Kultusminister-Konferenz (KMK) volle Anerkennung finden. Wir stehen schon in Kontakt mit der KMK.

Der Attentäter Robert Steinhäuser war zum zweiten Mal vom Abitur ausgeschlossen worden. Er stand damit vor dem schulischen Nichts. Wie beurteilen Sie heute Ihre Thüringer Regelung, wonach ein gescheiterter Gymnasiast keinen Abschluss bekommt?

Beides stimmt so nicht. Er hätte die Wiederholung der zwölften Klasse an einem Gymnasium fortsetzen können. Und natürlich hätte auch Herr Steinhäuser die Möglichkeit gehabt, in einer externen Prüfung den Realschulabschluss nachzuholen. Nach den mir vorliegenden Informationen muss er davon gewusst haben.

Es heißt, die Eltern wussten gar nichts von dem zweiten Scheitern. Warum wurden sie nicht informiert?

Noch einmal: Ein zweites Scheitern gab es nicht. Im Übrigen war Herr Steinhäuser volljährig.

Sie haben in Erfurt nicht zum ersten Mal Probleme mit abgewiesenen Abiturienten. Finden Sie es glücklich, jemandem das Abitur, und sei es berechtigt, zu verweigern und ihn dann sich selbst zu überlassen?

Ich kann ihnen derzeit noch nicht sagen, ob und wie man mit Robert Steinhäuser über seine weiteren schulischen Möglichkeiten gesprochen hat. Mich interessiert sehr, wie das im konkreten Fall gelaufen ist. Ich finde, es muss eine Nachsorge bei Schulversagen geben. Es darf nicht sein, dass ein Schüler, der einen Abschluss nicht erreicht, ins Bodenlose fällt. Dass er sich isoliert, einen Plan macht – und in dieser Weise losschlägt.

Wie könnte man dem vorbeugen?

Es geht darum, die Diagnosefähigkeiten der Lehrer für solche Fälle zu verbessern. Wir müssen unsere Möglichkeiten noch gezielter einsetzen. Die Bluttat zeigt, wie wichtig es ist, Probleme bereits im Vorfeld zu erkennen.

Das Lehrerkollegium wurde furchtbar getroffen. Wie kann man sich vorstellen, dass es im Gutenberg-Gymnasium überhaupt weitergeht?

Dieses Gymnasium hat einen ungeheuren Lebenswillen. Trotzdem wird der Neuanfang extrem schwierig werden. Das haben wir am Sonntag erlebt, als sich die Kollegen und Schüler nach dem Anschlag wieder trafen. Es war für alle nicht leicht, die dabei aufbrechenden Emotionen auszuhalten.

Was meinen Sie damit?

Sie können sich doch sicher vorstellen, dass es einem Lehrer, der sich mit seinen Schülern verbarrikadiert hat, um auf Hilfe zu warten, wie eine Ewigkeit vorkommt, bis die Polizei tatsächlich eintrifft. Darüber hat sich mancher Lehrer aufgeregt. Das hat sich emotional entladen. Die Polizei musste allerdings damit rechnen, dass noch ein zweiter Täter auf sie wartet und weitere Schüler gefährdet, die noch in der Schule waren.