Das französische Übel

Die Linke ist ebenso heillos zerstritten wie die Rechte. Die Folge: der Erfolg von Le Pen. Wenn die politischen Lager sich nicht untereinander einigen, schadet das auch Europa

Es ist fraglich, ob die Sozialisten nachJospins Niederlage noch zur politischen Mitte streben

Am Abend des 21. April fielen auch viele Deutsche aus allen Wolken: Das bewunderte Land der großen Revolution von 1789, das sich vor 200 Jahren für die Menschen- und Bürgerrechte erhoben hatte, hat einen rechtsradikalen Verächter ebendieser Rechte in das Finale des Präsidentenwahlkampfs gelangen lassen. Nur etwa drei Prozent fehlten ihm zum ersten Platz, und die Linke verschwand beinahe ganz von der Bildfläche. Ist die Welt noch in Ordnung?

Um diesen in der Tat atemberaubenden Vorgang zu erklären, reicht es nicht aus, die Tagespolitik zu bemühen und den Blick nur auf die Ereignisse der letzten Jahre zu lenken. Es ist zwar richtig, dass die Ängste vieler Franzosen angewachsen sind – Ängste vor den Folgen der umfassenden Globalisierung, vor dem unübersichtlichen europäischen Einigungsprozess, vor der als zunehmend unkontrollierbar empfundenen Einwanderungspolitik und vor den Sicherheitsdefiziten bei der chaotischen Wahlentscheidung. Es trifft auch zu, dass die Franzosen bei ihrem Geborgenheit vermittelnden Nationalgefühl besonders starke Identitätsängste haben. Aber damit allein ist weder die Zersplitterung der „bürgerlichen“ Rechten noch die für den Wahlausgang entscheidende Selbstzerfleischung der Linken zu erklären. Bloße Gegenwartsanalysen geben keine hinreichende Antwort.

In den sich beschleunigenden Entwicklungen unserer Zeit wird leicht vergessen, dass Gesellschaften und Völker eine Geschichte haben. So zeichnet sich Frankreich dadurch aus, dass seine politische Parteienlandschaft seit der Revolution von 1789 außergewöhnlich zerklüftet war. Es gab nie nur eine Rechte und eine Linke, sondern immer eine Vielzahl von miteinander rivalisierenden Gruppierungen, die ohne Rücksicht auf verwandte Richtungen um die Macht im Staate kämpften. De Gaulle hatte Recht, wenn er wiederholt vor dem „Gift unserer Entzweiungen“ warnte.

Im Unterschied zu Deutschland ist deswegen der Ruf nach Einigkeit und Zusammenstehen immer beschwörend gewesen; ein Denken in Lagern störte und stört die individualistisch geprägte „Nation une et indivisible“. So hat es bei unseren Nachbarn jenseits von Rhein und Saar fast nie Phasen der Einheit einer sozialistischen Partei gegeben. Während in Deutschland seit dem Gothaer Parteitag von 1875 eine geschlossene sozialdemokratische Partei bestand, hat Frankreich erst mit dem Zusammenschluss der sozialistischen Parteigruppen 1905 durch Jean Jaurès zur SFIO eine einheitliche Partei der Arbeiterbewegung erhalten, und dies auch nur bis zum Kongress von Tours 1920, als sich die Kommunisten abspalteten. Als es 1936 zur Bildung einer „Volksfront“-Regierung unter Léon Blum im Kampf gegen die faschistischen und franquistischen Bewegungen in Europa kam, rangen sich die Kommunisten nur zu einer Tolerierung durch; und zwei Jahre später war auch dieses Experiment zu Ende.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten die Zwistigkeiten der linken Parteien wieder auf. Erst Mitterrand gelang es in der Auseinandersetzung mit de Gaulle, die sozialistische Partei zu erneuern und gemeinsam mit den Kommunisten eine linke Regierung zu bilden. Aber auch in dieser Zeit erreichten die Sozialisten nie die Geschlossenheit der deutschen Sozialdemokraten und schon gar nicht deren Rückhalt bei einer mächtigen, geeinten Gewerkschaftsorganisation.

Auf die Zersplitterung der Linken antwortete die Rechte freilich mit keiner größeren Geschlossenheit. Im 19. Jahrhundert standen nebeneinander königstreue Legitimisten, bürgerliche Liberalkonservative und etatistische Bonapartisten, die sich nur im Kampf gegen den Geist der Revolution, nicht aber in der Festlegung von vorwärts weisenden gesellschaftspolitischen Zielen einigten. Erst de Gaulle entwickelte dank seiner überragenden Bedeutung in der Résistance gegen Hitlerdeutschland genügend Integrationskraft, um für eine Zeitspanne von knapp zwölf Jahren die wichtigsten Gruppierungen der Rechten zusammenzuführen.

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist es also kaum erstaunlich, dass auch einmal Überraschungen wie der Wahlausgang vom 21. April eintreten. Besorgnis erregend ist nur, dass es in Frankreich häufig erst eines solchen Desasters bedarf, um die Kräfte der Vernunft zur Räson zu bringen. Nach dem Schock der letzten Woche sieht es so aus, als ob die Franzosen sich am 5. Mai zusammenreißen und ihre Eigenbrötlereien und Anwandlungen überwinden. Aber was wird danach kommen?

Die Hauptfrage im Bereich der Linken wird es sein, wer Jospin nachfolgen wird und das von ihm hinterlassene Vakuum füllen kann. Und das ist mehr als eine Personenfrage. Da nicht nur das bisherige Regierungsbündnis der Linken, sondern auch die sozialistische Partei erhebliche Uneinigkeiten aufweist, wird es zunächst darauf ankommen, eine gemeinsame Basis für die Parlamentswahlen im Juni zu finden, die eine Bündelung der verschiedenen Kräfte erlaubt. Besteht eine Chance, den Linksrepublikaner und Jakobiner Chevènement wieder einzufangen? Und lohnen sich noch Absprachen mit den Kommunisten, die ja die Hälfte ihrer Wähler verloren haben?

Vor allem aber stellt sich die Frage, ob die Sozialisten unter dem Eindruck ihrer verheerenden Wahlniederlage sich noch weiterhin auf die politische „Mitte“ hin entwickeln werden und wollen. Wenn die Aussichten schwinden, in absehbarer Zeit wieder an die Macht zu gelangen, dann wird die Versuchung stärker, alte Richtungskämpfe wieder aufleben zu lassen und auf Polarisierung zu setzen. Diese Gefahr besteht umso mehr, als die Parteien der Opposition in Frankreich weniger Rückhalt an regionalen Auffangstrukturen haben als in Deutschland, wo die Länder Grundlagen für einen politischen Wiederaufstieg bieten.

Im Unterschied zu Deutschland ist der Ruf nach Einheit in Frankreich immer beschwörend gewesen

Aber auch die Rechte steht vor schweren Zeiten. Wenn Chirac langfristig Erfolg haben will, dann muss er die verschiedenen konservativen und liberalen Kräfte rechts der Mitte integrieren und überdies der extremen Rechten das Feld streitig machen. Das kann er nur um den Preis weitreichender Kompromisse, die ihm wiederum die Reformen unmöglich machen, deren das Land dringend bedarf. Auch die Wege nach Europa werden steiniger werden, wenn die nationalen Identitätsängste mehr als die Hälfte der eigenen Wählerschaft befallen.

So besteht die Gefahr, dass das alte französische Übel, „le mal français“, sowohl von links als auch von rechts her andauert: Man verharrt in gesellschaftlicher Immobilität und klammert sich deswegen an staatliche Strukturen. Weil aber die innergesellschaftlichen Gegensätze dabei größer als in Deutschland sind, wird es das Land schwerer als sein östlicher Nachbar haben, eine trag- und integrationsfähige politische Mitte aufzubauen, die einen Rückfall in etatistische Denkmodelle aufhält. Ob Europa schon stark genug ist, um Bewegung in die erstarrten Fronten zu bringen?

RUDOLF VON THADDEN