Zweite Wirklichkeit

Walter Schels‘ Fotografien in der Freien Akademie der Künste hinterfragen Tier-Stereotype und Politiker

Was haben Joschka Fischer und eine Katze gemeinsam? Nicht viel, sollte man meinen. Der eine macht Politik, die andere jagt Mäuse. Wer Ähnlichkeiten feststellen will, sollte in die Ausstellung Das zweite Gesicht gehen, die bis Ende Juni im Rahmen der Hamburger Photo-Triennale in der Freien Akademie der Künste zu sehen ist. Der Porträtfotograf Walter Schels hat dort bekannte und unbekannte Menschen sowie große und kleine Tiere abgelichtet: in großformatigen Schwarz-Weiß-Bildern, die eine zweite Wirklichkeit unter der gestochen scharfen Oberfläche hervorzaubern.

Jede Falte, jede Pore, jede Warze ist auf den Fotos von Neugeborenen und Greisen, vom Dalai Lama oder einem Frosch zu erkennen. Was Schels, 1936 in Landshut geboren, als Porträtfotografen so einzigartig macht, ist seine Fähigkeit, mit starken Hell-Dunkel-Kontrastierungen auch das Unsichtbare zum Leuchten zu bringen. Die Schau Das zweite Gesicht versammelt neben Gegenüberstellungen von sehr alten und sehr jungen Menschen, die Geburt und Tod als sich berührende Punkte in Analogie setzen, auch viele Bilder aus Schels‘ Fotoband Die Seele der Tiere.

Seele, das ist ein großes Wort, das man nur vorsichtig in den Mund nimmt. Bei Schels‘ Porträtfotos drängt es sich aber geradezu auf. Da wird einem Schwein, einem Hund, einer Kuh – Haustieren, denen wir oft gleichgültig bis verächtlich gegenüberstehen – eine tiefe Würde verliehen. Aus ihrer natürlichen Umgebung herausgerissen, immer vor neutralem Hintergrund, lichtet Schels zumeist den Kopf eines einzelnen Tieres frontal oder im Profil ab – genauso wie bei seinen menschlichen Modellen.

Gefühle und Urteile, die Tiere normalerweise im Betrachter auslösen, wie niedlich, friedlich, eklig oder gefährlich, weichen anderen, menschenähnlichen Kategorien. Das Schaf schaut gar nicht dumm, sondern sehr wissend, das Schwein reckt selbstbewusst und zufrieden, fast ein bisschen arrogant, die Schnauze empor, die Kuh im Halbprofil wirkt nachdenklich. Mag sein, dass das alles Projektionen sind – allemal aber werden hier menschliche Stereotypen über Tiere hinterfragt.

Und Stereotypen über Politiker. Dass diese Spezies hinter dem maskenartigen Mediengesicht noch ein anderes verbirgt, hat man schon immer geahnt. Einen derart verzagten Gerhard Schröder konnte man sich bislang aber kaum vorstellen. Hier sieht er aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen – so wie der Hund im Nebenraum, der die Pfoten traurig auf den Kopf legt und dessen Augen wie zwei kleine Teiche überlaufen. Und Joschka Fischer? Seine Gesichtszüge ähneln frappierend denen einer sehr neugierigen Katze.

Karin Liebe

Walter Schels: „Das zweite Gesicht“, Di–So 11–18 Uhr, Freie Akademie der Künste; bis 27.6.