Den Traum tanzen

Die Theaterregie-Diplomandin Tina Seeland inszeniert das Tanzstück „Klingt meine Linde“ nach Motiven von Astrid Lindgren auf Kampnagel

von KATRIN JÄGER

Malin (Sakura Shimizu) tanzt. Einen letzten, verzweifelten Tanz. Reckt die Arme bittend in die Höhe, wimmert, fleht und juchzt in unverständlicher Sprache – für ihren Freund Jocke (Kai Fischer). Der liegt regungslos am Boden. Er hat den Baum nicht gesehen. Die Linde, die Malin ihm mitgebracht hat, aus der Oberwelt. Denn hier unten, im Armenhaus, gibt es schon lange keine Bäume mehr, keine Blumen, keine Gräser. Hier in der Unterwelt herrscht Dunkelheit.

Hier hausen die Waisenkinder: Malin, der depressive Jocke mit seiner kontrollsüchtigen Schwester Keif Marja (Sarah Maria Bürgin), Ola (Kai Teschner) mit dem Sammeltick, Schiefmaul (Wolfgang Neeven) in seiner Klangwelt aus Schrottinstrumenten und Krücken-Anna (Sandra Utzinger), ein verkrüppelter Androide mit Beinprothesen. Durch Tunnelgänge gelangt die skurrile Gemeinschaft nach draußen, in die Welt der Medialen. Zum Betteln. Und ab und an flanieren diese Medialen auf den Laubengängen über dem Armenhaus, begaffen die Unterweltler und werfen ihnen Gummibärchen zum Fraß vor.

Nackte Endzeitstimmung durchdringt die Diplominszenierung der Theaterregie-Studentin Tina Seeland. Tristesse auf den Spuren Astrid Lindgrens, deren Märchen „Klingt meine Linde“ als Vorlage diente. Seeland versetzt Lindgrens literarische Bilder in körperliche Bewegung. Die kann ihrer Ansicht nach, gerade bei den Waisenkindern, Gefühle direkter transportieren als das gesprochene Wort. „Wenn ein Kind der Sprache noch nicht mächtig ist, spricht es doch durch sich selbst. Und gerade das bedeutet für mich der Tanz“, erläutert Seeland ihr Konzept.

Kennen und lieben gelernt hat sie die eher unbekannte Geschichte von Lindgren schon als Kind. Den Traum der Umsetzung träumt sie seit drei Jahren. Er hat sie während ihres Theaterregie-Studiums bei Jürgen Flimm beschäftigt, genährt hat ihn Seelands Arbeit in einem Pflegeheim für alte und behinderte Menschen.

Das Stück will die Situation vergessener Kinder zeigen. In Zeiten des Kriegs und der Not, aber auch im so genannten Frieden, in den Wohnsilos, „wo Kinder praktisch auf der Straße leben, wo richtige Feuerplätze vor diesen Wohnbauten sind“, so die Dramaturgin Genia Enzelberger. Zwei Monate lang hat sich das Team schlagkräftig auf das Leben in der Unterwelt vorbereitet. Alle haben vor den Proben regelmäßig geboxt. Enzelberger war überrascht, dass „durch eine Sportart, die ich eigentlich immer brutal fand, die Leute lernen, miteinander umzugehen. Man hat dadurch eine Sensibilität für die Bühne bekommen, auch füreinander“.

Die Waisenkinder kämpfen untereinander mit harten Bandagen, die Seeland jedoch ganz zart inszeniert, beispielsweise wenn Ola den phlegmatischen Jocke an den Haaren ein Stück durch den Raum schleift und Krücken-Anna eine Ohrfeige dafür verpasst, dass sie zu stottern beginnt. Auch als die freche Göre Malin durch die Tunnelröhre in die morbide Gemeinschaft eindringt, versuchen die anderen zunächst, sie zu vertreiben. Sie dulden kein weiteres Hungermaul neben sich.

Michel Altmann, Schauspieler am Thalia-Theater, mimt in dem Ensemble von Mittzwanzigern mit seinen fast 60 Jahren den greisen Erzähler namens Liebe Güte. Er weiß, was die anderen nicht wissen, hält als Erinnerungsträger die alten Zeiten lebendig. Altmann freut sich, mit dem jungen Team zusammenzuarbeiten. Ein Funke von Seelands Eifer, den eigenen Traum auf der Bühne zu verwirklichen, müsse auch auf die großen Theater wieder überspringen. „Das sind Träume, wo ich mich nur als Wölkchen verstehe, und versuche, das, was ich da in meinem Beruf bis jetzt gelernt habe, Tinas Traum zur Verfügung zu stellen.“ Malin tanzt. Ausdrucksstark, sinnlich, kunstvoll. Für Jockes Seele und Tinas Traum.

heute, Fr + Sa, 21 Uhr, Kampnagel k2