■ Nach dem Erfurter Amoklauf
: Kurzsichtige Verbotspolitik

betr.: „Schnellschüsse nach Amoklauf“, taz vom 29. 4. 02

Was wundern sich die Menschen über eine gesteigerte Gewaltbereitschaft, wenn Gewalt längst zum Wert in unserer Gesellschaft geworden ist? Dazu zählen für mich weniger Videos oder Computerspiele, sondern eher die vielen PoltikerInnen, die junge Männer weiter mit der „Wehr“-Pflicht an die Waffe zwingen und Krieg mittlerweile als legitimes Mittel der Konfliktlösung propagieren. Hier würde wirklich Verantwortung ansetzen – aber Pazifismus ist ja out! Oder holt uns doch noch eine andere Realität ein?

TIM SCHMIDT, Göttingen

Warum sollte man sich auch den Kopf über das Bildungssystem und seine Aussonderungsverfahren, über Erziehung und die Vermittlung kultureller Werte oder gar über psychische Störungen und ihre Ursachen zerbrechen, wenn man Schuldige benennen kann, die nicht auch irgendwie eine Mitverantwortung aufzeigen? Ja, die Einsicht reicht ja nicht einmal so weit, dass in all der falschen und selbstgerechten Medienschelte danach gefragt wird, wer es eigentlich ist, der die Kinder vor die Fernseher setzt, um sich mal von der Erziehung zu erholen …

Die Naivität muss schon gefährliche Ausmaße angenommen haben, wenn man nicht nur glauben will, dass Verbote helfen, sondern auch, dass sie sich sogar verwirklichen lassen. Längst sind die Quellen der Computer spielenden und Film zuschauenden Jugend doch nicht mehr allein in der Bundesrepublik zu finden, sondern im global village.

Wie, bitte schön, soll denn ein Verbot solcher Medien funktionieren, wenn man dabei gleichzeitig alle Märkte öffnet und innereuropäisch alle Zollbeschränkungen vermindert? Das Fehlen der Antworten auf solche Fragen allein beweist schon, dass die geforderte Verbotspolitik kurzsichtig, wirkungslos und zu diesem Zeitpunkt geäußert eigentlich nichts anderes als Wahlbetrug ist. Doch es muss noch andere Gründe geben, aus denen gerade jetzt nicht nur von Seiten der Politik vermehrt nach „Verboten“ geschrieen wird.

Ist der Fall Erfurt nicht auch ein guter Beleg für die Unmündigkeit der Bürger? Hat die Demokratie nicht etwa versagt? Muss anstelle dessen jetzt vielleicht jemand in Medien und Politik kommen, der dem Volke sagt, was gut für es ist? Ist „Verbot“ vielleicht die Antwort auf all die K-Fragen (die Kirchnachfolge- und Kanzlerfrage)? Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mit der Liberalisierung und Demokratisierung der Medien nicht so recht zufrieden ist in Berlin und München. Denn durch die Informationsvielfalt wird der Rezipient fahrlässig dazu gebracht, nicht mehr einfach an Einwortantworten zu glauben. Und das muss doch verhindert werden, damit die Politik und der Headline-Journalismus nicht am Ende gezwungen werden nach teureren und komplexeren Lösungen zu suchen. STEFAN HÖLTGEN, M.A.,

Film- und Kulturwissenschaftler, Köln

Die gesellschaftliche Diskussion ist entfacht über Normen im Umgang miteinander, über Konfliktlösungen. Gut so. Weniger sollte es gehen um Waffen und Gewaltfilme, da diese nur Auslöser oder Begleiter solcher Taten sind. Ursachen lagen sicher in der Sozialisation des jungen Mannes. Und hier genau spielten die Schule, die LehrerInnen wahrscheinlich eine Schlüsselrolle, sonst wären sie nicht zum Ziel geworden. Aber genau sie spielen kaum eine Rolle in der Diskussion um Schutzbedarf und Hilfe.

In diesen Kontext passt auch das Posaunen der Politiker, Schule muss gewaltfrei werden, Lehrer müssen besser erziehen, Konfliktschlichter sein. Aber wie steht es um die Arbeitsbedingungen der LehrerInnen in immer größer werdenden Klassen? Wie kann sich ein/e LehrerIn noch Zeit nehmen für die Sorgen der SchülerInnen? Wie steht es um die Kontinuität des Bildungsprogramms, das alle vier Jahre mit einer neuen Regierung den Bach runter geht, wie steht’s um das soziale Lernen aller Kinder in immer größer werdenden „Lernfabriken“ mit 1.000 SchülerInnen, weil kleine Schulen sich nicht rechnen? […] S. STACHEL,

Lehrerin für Chemie, Biologie, Psychologie, Brandenburg

Wenn aus der Erschütterung, die die schreckliche Tat in Erfurt ausgelöst hat, der politische Wille erwächst, tatsächlich etwas für die Schulen zu tun: Bitte, geschätzte Politiker aller Parteien, geben Sie den Schulen alle gestrichenen Klassenlehrerstunden zurück, begrenzen Sie die Klassenstärke endlich auf 20 und genehmigen Sie allen Schulen, nicht nur einzelnen bevorzugten, den eigenen Schulpsychologen!

Aber das kostet Geld, und dass beim Geld die Liebe und wohl auch die Erschütterung aufhört, wissen wir ja. So wird die Schule weiterhin ohne merkbare Unterstützung von außen der letzte Platz in unserer Gesellschaft sein, in dem nicht die Ellenbogen regieren, trotz allem nicht, sondern ein menschlicher Umgang miteinander gelehrt und geübt wird. Deshalb ja auch das Entsetzen: dass die Schule nicht verschont geblieben ist von diesem in ihr undenkbaren Ausbruch von Gewalt. ELISABETH KASCH,

seit 28 Jahren am Gymnasium als Lehrerin tätig, Hamburg

Gewalt entsteht nicht zuletzt dort, wo Menschen allein gelassen werden. Der Sozialstaat wurde hierzulande in den vergangenen Jahren rigoros abgebaut, die durch hohe Dauerarbeitslosigkeit in die Hoffnungslosigkeit gestoßenen Regionen, gerade im Osten, sind als Konsequenz zu Brutstätten von Gewalt und Rechtsradikalität verkommen. Staatliche Fürsorge, Hilfsprogramme und Maßnahmen, die dem Leben der Menschen einen Sinn geben, generell der Staat als Garant sozialer Sicherheit und nicht als Handlanger sozialer Kälte und reinem Wirtschaftsliberalismus wären vielleicht in der Lage, die Familie in ihrer wünschenswerten Funktion als Urerfahrung sozialen Miteinanders so zu stützen, dass Menschen sich nicht ihren Selbstwert aus Gewalttätigkeit herleiten müssen. TIM SCHWABEDISSEN, Kiel

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