Der Deeskalator

Nach dem 1.-Mai-Krawall in Berlin wird nicht mit Kritik an Innensenator Körtings moderater Polizeistrategie gespart

Manchmal überrascht eine Meinung nur durch die Schnelligkeit, mit der sie sich bildet und artikuliert. Das Deeskalationskonzept der Berliner Polizei sei „schon im Grundsatz gescheitert“ und bedeute eine „billige Inkaufnahme von verletzten Polizisten“, diktierte Jörg Schönbohm einer Presseagentur bereits am Nachmittag des Maifeiertags. Stunden vor den Ausschreitungen bewertete Brandenburgs Innenminister also ihre Ausmaße und hatte auch die Verantwortlichen ausgemacht. „Der rot-rote Senat möchte keinen wehrhaften Rechtsstaat, sondern einen Staat der Beliebigkeit zur Lasten der rechtstreuen und rechtschaffenen Bürger.“

Die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz am ersten Mai trägt der Innensenator. Und Ehrhart Körting (59, SPD) hat sich im Vorfeld des Krawallevents angreifbar gemacht. Anders als seine CDU-Vorgänger, zu denen auch sein Kritiker Schönbohm gehört, setzte Körting auf „Deeskalation“. Die Polizei, so Körtings Vorgabe, möge sich zurückhalten, um die potenziellen Gewaltanwender unter Demonstranten und Schaulustigen nicht zu provozieren. Diese Strategie gefällt nicht allen in der Berliner Polizei. Zusätzlichen Unmut zog Körting auf sich, als er gegen den Willen der Polizeiführung eine Demonstration im Bezirk Mitte genehmigte. Zweifel an der Loyalität der Sicherheitskräfte zur politischen Führung erhielten Nahrung, als der Chef der Schutzpolizei auf einer Pressekonferenz bei der Vorstellung des Deeskalationskonzepts scheinbar beiläufig sagte: „Wir werden uns nicht auf jede brennende Mülltonne stürzen. Vielleicht gehen wir auch mal an einem brennenden Auto vorbei.“ Eine Steilvorlage für Kritiker, die behaupten, der rot-rote Senat toleriere Straftaten.

Tatsächlich fiel die Kritik am Tag nach den Ausschreitungen heftig aus. Christoph Stölzl, der designierte Chef der Berliner CDU, erklärte, Deeskalation sei „Unfug gegenüber Leuten, die Randale und Plünderungen wollen“. Die Polizei solle vielmehr eine „eiserne Front für Ordnung und gute Sitten bilden“, so Stölzl. Ein Funktionär der Polizeigewerkschaft im Beamtenbund schimpfte: „Was Körting hier gemacht hat, ist an Einfältigkeit nicht zu überbieten.“

Dabei wird der als linksliberal geltende Sozialdemokrat in der an angesehenen Persönlichkeiten armen Berliner Landespolitik eigentlich überparteilich geschätzt. Kritik ist er nicht nur von rechts gewöhnt. Als Justizsenator in der großen Koalition machte Körting 1998 Eltern mitverantwortlich für die steigende Jugendkriminalität. Der Vater von fünf Töchtern kritisierte, dass zunehmend beide Elternteile ohne zwingende materielle Not berufstätig seien und die Erziehung auf die Kitas abwälzten.

Am 1. Mai hielt sich Körting mit einschätzenden Stellungnahmen bewusst zurück. Von einer Pressekonferenz, die nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe stattfand, wurde ein erneutes Bekenntnis zur Deeskalation erwartet. Die Hoffnung, die Krawalle am 1. Mai mit dieser Strategie wirklich eindämmen zu können, haben aber auch deren Anhänger aufgegeben. Der grüne Politiker Wolfgang Wieland bekannte, letzlich sei es egal, ob „CDU-Hardliner“ oder ein Sozialdemokrat wie Körting Innensenator seien. Körting selbst hat gegenüber Senatskollegen schon vorher prophezeit: „Egal, was passiert, ich werde nach dem 1. Mai blass aussehen.“

ROBIN ALEXANDER