Neue Offensive in Afghanistan

Bergregionen im Südosten werden nach Bunkern und Höhlen der Taliban und al-Qaida durchkämmt. US-Organisation veröffentlicht Hinweise auf Massengräber mutmaßlicher Taliban, die womöglich in Gefangenschaft ermordet wurden

von SVEN HANSEN

Rund eintausend britische und US-amerikanische Soldaten haben in der Nacht zu gestern im Südosten Afghanistans eine neue Offensive gegen vermutete Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer begonnen. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram bei Kabul sagte der britische General Rodger Lane gestern, Ziel der „Operation Snipe“ südlich der Stadt Khost sei es, Höhlen und Bunker ausfindig zu machen, in denen sich Gegner versteckt hielten. Auf dem Flughafen von Khost, wo US-Truppen stationiert sind, schlugen gestern laut Nachrichtenagentur AIP zwei Raketen ein, ohne Schaden anzurichten.

Die US-Menschenrechtsorganisation „Physicians for Human Rights“ (PHR) hat bei der Untersuchung von Massengräbern in Nordafghanistan Hinweise auf die Ermordung gefangener Taliban-Soldaten gefunden. Während sieben der neun untersuchten Gräber Überreste mutmaßlicher Opfer der Taliban von 1997 und 1998 enthielten, seien zwei Gräber nahe Schebarghan und Masar-i Scharif jünger. In einem befinden sich Leichen mutmaßlicher Taliban-Kämpfer, die nach der Einnahme der Städte Kunduz und Taloqan durch die mit den USA verbündete Nordallianz im November und Dezember 2001 womöglich in der Gefangenschaft getötet wurden, heißt es in einem jetzt vorgelegten Bericht.

Bei dem Grab nahe Schebarghan seien Spuren von Baumaschinen zu sehen. Gefunden wurden menschliche Knochen, Schuhe, Gebetskappen und -perlen sowie gut erhaltene Kleidung. Die an der Untersuchung beteiligte Ärztin Jennifer Leaning schätzte gegenüber AP die Zahl der Leichen auf bis zu 1.000. Augenzeugen berichteten, dort seien um die Jahreswende Leichen aus Lkw-Containern ausgeladen worden.

In Afghanistan dienen Container als Läden, Straßensperren und Gefängnisse. Nach Aussagen von Überlebenden seien Gefangene in den Containern erstickt. Anderen Berichten zufolge sollen Soldaten des Warlords Abdul Raschid Dostum auf Container mit Gefangenen geschossen haben. Bei dem Grab nahe Masar-i Scharif könnte es sich laut PHR um ein älteres Grab mit ermordeten Taliban-Gegnern handeln, das nach der Eroberung der Stadt durch die Nordallianz im November 2001 mit Leichen pakistanischer Taliban aufgefüllt worden sei. In der Stadt kam es im November zu einem Aufstand gefangener Taliban, der blutig niedergeschlagen wurde.

PHR hatte bereits im Januar und Februar Expertenteams nach Nordafghanistan geschickt. Die Organisation wandte sich am 1. März an Interimsregierungschef Hamid Karsai mit der Bitte, die Gräber zu sichern, um eine umfassende Untersuchtung zu ermöglichen. Weil PHR bis heute keine Antwort erhielt, habe die Organisation jetzt ihre vorläufigen Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. Massaker von Truppen der Nordallianz an Taliban-Kämpfern und von den Taliban vor allem an Angehörigen der Hasara im Zuge von Kämpfen um Masar-i Scharif 1997/98 waren schon in der Vergangenheit bekannt geworden. Jedoch stehen auch hier noch umfassende Untersuchungen aus.