Mit Bier und Bratwurst zur Randale

Der 1. Mai in Berlin: Bis zum Abend blieb es ruhig, schien die Sonne. Aber dann wurden die Erwartungen des Publikums doch nicht enttäuscht: Endlich kam es zum Krawall – der ganz entspannt genossen wurde. Gestresst war nur die Polizei

aus Berlin STEFAN KUZMANY

Gespannt warten die Menschen auf dem Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg. Hier knallt es jedes Jahr, das weiß man, und deshalb haben sich viele Schaulustige eingefunden. Ganz junge meist, aber auch Veteranen der revolutionär gesinnten Bewegung. Bald ist es halb sieben, und noch immer ist nichts passiert. Alle haben sich auf ihre Weise besonders herausgeputzt für diesen Tag. Alte Kämpfer ganz in schwarzer Montur, türkische Jungs im blütenweißen Trainingsanzug aus Kunstseide. Viele Mädchen haben sich geschminkt.

Tausende sind auf den Beinen. Die Bewohner haben sich für diesen einen Tag im Jahr die Straße zurückerobert, und das nutzen sie zum Verzehr einer Bratwurst und einiger Biere. Ein junger Mann hat einen Luftballon von den Grünen dabei, er saugt sich das Gas in die Lungen und ruft: „Hoch die internationale Solidarität!“ Das klingt sehr lustig. Die aufregendste Erscheinung ist der Szeneautor Wiglaf Droste, wie er weit ausschreitend in Dichterverkleidung über den Heinrichplatz strebt.

Politische Forderungen werden nicht skandiert. Zu lesen sind nur Transparente wie „Kriegstreiber stoppen, Kapitalismus abschaffen!“. Verlangt werden „6,5 Prozent!“. Oder: „Das Proletariat hat kein Vaterland“. Was andere Demonstranten nicht abhält, auch partikulare Interessen zu formulieren: „Nur ein Volkskrieg kann Palästina befreien“. Später heißt es: „Sieg dem Volkskrieg in Nepal!“ Der Kundgebungslautsprecher erörtert die Baskenfrage.

Eine der vielen linken Splittergruppen, die an den Cafés vorbeikommen, ist das „13-Uhr-Bündnis“. Seine Abschlusskundgebung betont, dass es auch und gerade der 13-Uhr-Termin sei, welcher der 13-Uhr-Veranstaltung wieder besonderes Gewicht gegeben habe.

Und dann ist da noch Christian Ströbele, der Grüne mit dem wehenden roten Schal, der auf seinem Fahrrad vorbeigeradelt kommt. „Friede, Freude, Eierkuchen“, meldet er vom Straßenfest auf dem Mariannenplatz nur eine Straßenecke weiter. Und das bei tausenden Menschen und vielen Litern Bier. Ströbele sieht damit die zurückhaltende Strategie der Polizei bestätigt. Wo keine Beamten zu sehen sind, gibt es auch keinen Krawall. Türkische Familien plaudern wie immer in der trüben Nachmittagssonne – nur dass diesmal auch das Aluminium tausender plattgetretener Bierdosen vom letzten Abend funkelt.

Es scheint so, als habe sich die Gewalt diesmal zu früh entladen, als sei das Spektakel bereits vorbei. Denn schon in der Walpurgisnacht war ein „Plus“ geplündert worden, hatte es über achtzig Verletzte gegeben, war eine Frau am Kopf getroffen worden – hatte es eben schon das volle Programm gegeben. Der 1. Mai dagegen ist außergewöhnlich friedlich. Bis jetzt.

Doch jetzt, gegen halb sieben, geht es endlich wieder los. Alle haben darauf gewartet. Ein Fotograf, heißt es, habe einige Jungs fotografiert, minderjährige Migranten. Die wollten sich das nicht gefallen lassen. Sie schlagen ihn, treiben ihn vor sich her, die Mariannenstraße hinunter. Polizei rückt auf den Heinrichplatz vor, sofort wird die Stimmung aggressiv: „Scheißbullen!“ skandiert die Menge.

Wenige Straßen weiter wird der „Plus“ zum zweiten Mal geplündert. Um die Ecke, in der Mariannenstraße, stehen die Steinewerfer der Polizei gegenüber, die sich hinter Schilden und unter Helmen duckt. Wo die Steinewerfer herkommen, am Mariannenplatz, brennt ein Auto, das Glas einer Bushaltestelle geht zu Bruch. Die Polizei wehrt sich mit Wasserwerfern.

Die Steinewerfer haben sich in eine Seitenstraße zurückgezogen. Nicht alle sind sich einig im Widerstand. Ein junger Deutscher brüllt einen noch jüngeren maskierten Migranten an: „Was macht ihr für eine Scheiße?“ Sein Kumpel schleudert gerade wieder einen Pflasterstein in Richtung Polizei. „Was glaubst du, warum du hier bist?“, fährt der Migrant den Deutschen an. Fast prügeln sie sich, werden jedoch von ihren Freunden zurückgehalten. Der Migrant bückt sich und scharrt einen weiteren Pflasterstein aus der Straße. „Scheiß Juden!“, brüllen sie jetzt, schleudern Steine, vielleicht fünfzehn wütende Jungs. Eine kleine Intifada mitten in Kreuzberg. Die Polizei rückt mit Wasserwerfern vor.

Zwischen den Fronten ist ein kleiner Kiosk. Er hat geöffnet. Der Besitzer, ein älterer Herr muslimischen Glaubens, lächelt still in sich hinein. Nein, kein Problem. Nur wenn die Polizei vor seinem Laden steht, hat er Angst um seine Fensterscheiben.

Die Polizei hat die Straßen weitläufig mit Menschenketten abgesperrt. Nur wer hier wohnt, darf noch durch. Die Polizisten sind jetzt überall. In den Seitenstraßen stehen die Transportfahrzeuge, die „Wannen“. Aus den Fenstern dröhnt laute Musik: „Hey Joe“.

Die Gewalt flaut ab. Denn niemand kann sich mehr bewegen. Im Restaurant „Hasin“ bleiben die Kunden aus, weil die Polizei die Straße von beiden Seiten absperrt. Die arbeitslosen Kellner und die Demonstranten liefern sich ein kleines Fußballspiel auf der Fahrbahn. Prallt der Ball auf einen der hier stationierten Polizeiwagen, johlen sie, als hätten sie ein Tor geschossen. Der Fahrer schaut böse aus dem Fenster, aber er kommt nicht heraus. So bleibt es ruhig.

Gegen Mitternacht meldet die Polizei offiziell, dass der Krawall zu Ende sei. Das Publikum verzieht sich. Manchmal nicht freiwillig: Die Kellnerin einer Szenekneipe scheucht ihre Gäste von den Stühlen auf der Straße. Alle müssen wieder ins Innere. 1. Mai hin oder her, Sirenengeheul und Böllerkrachen, aber der Nachbar hat sich beschwert. „Wenn das noch mal passiert, verlieren wir die Konzession. Dann darf ich mir einen neuen Job suchen.“ Und das am Tag der Arbeit.