„Hast du mich nicht mehr lieb?“

Geplante Ziffernnoten bedrohen die moderne Pädagogik an Hamburgs Grundschulen. An der Clara-Grunwaldschule in Neu-Allermöhe gibt es weder Zensuren noch starre Klassenverbände. Dort werden Schüler auch schon mal zu Chefs

VON KAIJA KUTTER

„Guck mal, ich rechne schon wie ein Drittklässler“, freut sich der 7-jährige Kevin und zeigt stolz sein Heft. „603...613, 623, 633“, mühelos setzt er die Zahlenkette in Zehnersprüngen fort. Es ist gerade „Arbeitszeit mit Zahlen“ in der Clara-Grunwald-Schule. Doch die 25 Kinder der „Löwen“ – so heißt die Klasse – machen alle etwas Verschiedenes, ihrem eigenen Lernpensum entsprechend. Anmul (6) am Nachbartisch vergleicht, welcher Korb mehr Eier oder Äpfel in sich trägt, Nathan zählt Fenster auf einer Hundertwasser-Postkarte, andere Knobeln oder addieren bereits die Rechenpyramiden.

An der Clara-Grundwald-Schule gibt es keinen Unterricht im 45-Minuten-Takt. Es gibt auch keine Klasse 1 a oder 2b. Die 1999 mit einem Preis ausgezeichnete Schule verzichtet auf Zensuren, läßt 5- bis 8-Jährige in einer Klasse unterrichten und phasenweise sogar alle Schüler von der Vorschule bis zur Klasse 4. So kann es passieren, dass 5-Jährige bereits lesen und schreiben. Und Lernschwache, die anderswo „sitzen bleiben“, dürfen in ihrer Lerngruppe bleiben. Für sie kommt ein fünftes Jahr hinzu.

Vor der „Zahlenzeit“ war „Werkstattzeit mit Tieren“, dafür öffnete sich die Tür zu den „Leoparden“, so heißen die Klassen 3 und 4 im Nachbarraum. Auf der Fensterbank stehen 32 Körbe mit Aufgaben zum Thema. In der „Werkstatt“ hat jedes Kind die Aufsicht über eine Aufgabe, trägt Verantwortung und ist damit Chef. Hat ein Schüler sie erledigt, beispielsweise ein Tierpuzzle gelegt oder den richtigen lateinischen Namen zum Kamel aufgeklebt, bekommt er vom Chef eine Unterschrift. Nach jeder Phase ertönt ein Gong, und die Schüler versammeln sich mit der Lehrerin Anke Kiehn im Viereck, um sich zu besprechen. Wer hat wieviele Werkstatt-Aufgaben fertig? Fünf ist das Minimun, 30 das Maximum. 32 Aufgaben gibt es: „Wem fällt eine Rechenaufgabe mit 30 und 2 ein?“, fragt die Lehrerin. Die Finger gehen hoch.

Lernen lernen, den Lernprozess selbst mit zu organisieren, das verbraucht Zeit. „Wenn wir nur Frontalunterricht machten, würden wir noch mehr Zeit verschwenden“, erklärt Schulleiterin Angelika Fiedler. „Denn wenn alle das Gleiche machen müssen, egal wie schnell ihr Lerntempo ist, klinken sich gute und schwächere Schüler aus.“

Fiedler graust deshalb vor der Vorstellung, auf Geheiß der Schulbehörde bald Noten vergeben zu müssen. „Dann müssen wir immer wieder künstlich Situationen schaffen, in denen alle Schüler die gleichen Dinge leisten.“ Die Arbeit ihrer Schule wäre dadurch „extrem gefährdet“. Zwar gebe es in Klasse 3 und 4 auch Vergleichsarbeiten, aber in viel geringerem Umfang, als es für Zensuren nötig wäre.

Doch die werden kommen. Derzeit können Eltern klassenweise abstimmen, ob sie Noten oder Berichtszeugnisse wollen. Schon ab Frühjahr 2003 soll dieses Elternwahlrecht durch ein „Kombi-Zeugnis“ von Note und Bericht ersetzt werden.

Nicht nur in Neu-Allermöhe, auch an anderen Schulen laufen Eltern und Pädagogen dagegen Sturm. „Meine Tochter hat Spaß an der Schule, das freut mich so“, sagt Elternsprecher Arne Broders von der Max-Brauer-Gesamtschule, an der am kommenden Montagabend eine Podiumsdiskussion vom Elternverein zum Thema stattfindet. „Ich habe richtig Angst, dass sich durch Noten das Klima in der Klasse verschlechtert.“

„Als ich einmal auf Elternwunsch hin Noten geben musste, wurde die Stimmung in der Klasse gleich aggressiver“, erinnert sichauch Angelika Fiedler. Sie frage sich, welchen Sinn Noten haben, „für die Diagnose brauchen wir sie nicht“. So würden die Empfehlungen der Clara-Grunwaldschule für die weitere Laufbahn von Eltern und Schulen stets befolgt.

Die Kinder im Grundschulalter hingegen würden Noten und ihre Leistung nicht miteinander in Verbindung bringen. „Als ich einem kleinen Mädchen eine Vier gab, fragte mich das Kind: hast du mich nicht mehr lieb?“

Podiumsdiskussion: „Leistung ohne Noten“, Montag, 19 Uhr 30, Max-Brauer-Gesamtschule, Bei der Paul-Gerhardt-Kirche 1-3