Wer hält die Zigarette danach?

Im Rollstuhl kann man Tango tanzen, flirten und noch viel mehr. Die Initiative „Sexybilities“ berät Behinderte in Sexualitätsfragen. Und veranstaltet Partys gegen das Klischee vom sexuellen Neutrum

von ANNETTE KLINKHARDT

Wie auf einem Altar liegt er da: nackt ausgebreitet auf rotem Samt. Angestrahlt von roten Diskostrahlern. Um Matthias Vernaldi tanzt eine Stripperin. Sie nimmt seine verkrümmte Hand und führt sie an ihre Brust, streicht mit den Haaren über seinen Körper. Gießt sich Kerzenwachs über den Bauch und schaut ihn an dabei. Legt sich schließlich nackt auf ihn. Behinderter Sex. Gelassen und selbstbewusst. Vorgeführt bei der „Sexybilities-Party“ in der Kreuzberger Disko SO 36.

„Als Behinderte wird man als sexuelles Neutrum gesehen“, sagt Karin Köpp, die an diesem Abend mit der Potsdamer Rollstuhltanzgruppe Pepe Rolli zeigt, wie man auf Rädern Tango tanzt. Sie hat dunkles lockiges Haar, trägt eine Jeansjacke mit buntem Tuch und sitzt entspannt in ihrem Rollstuhl. Ihr 13-jähriger Sohn freut sich, wenn sie mal länger weg ist, erzählt sie. Rollstuhl und Kinder? Da war erst mal der Frauenarzt, der bei den Untersuchungen immer über ihren Kopf hinweg mit ihrem Mann über sie geredet hat. Dann: „Wie die Leute mich angestarrt haben, als ich schwanger war! Als sei das gar nicht möglich.“

Gemächlich ist das Tempo an diesem Abend in der Disko. „Wer hält die Zigarette danach?“, steht auf einem handgeschriebenen Poster. Rollstuhlfahrer, die mühsam um Kurven lenken, sich über Schwellen hieven. Grüppchenweise rollen sie an, begleitet oder geschoben von ihren Assistenten. „Hat Janina eine Windel an?“, fragt die schiebende Begleiterin ihren Vordermann über Janinas Kopf hinweg. Eine Frau mit abstehenden Zöpfchen rollt in die schummrigen Disko, rot-grün geringelte Strumpfhose und Jeans-Minirock. Unterm Kinn klemmt ein kleines graues Frotteehandtuch, auf das Speichelfäden rinnen. Zwei junge Frauen kümmern sich um einen spastisch gelähmten Mann im breiten Elektrorollstuhl. Stellen ein Glas Sekt auf das schwarze Plastiktischchen über seinem Schoß. Mit Strohhalm. Prosten ihm zu. „Je nachdem, wie stark die Leute stigmatisiert sind, so ist ihr Marktwert“, sagt Vernaldi nüchtern. „Wer spastisch gelähmt ist oder ein entstelltes Gesicht hat, hat es schwerer als ich.“

Vernaldi, der die Disko organisiert hat, leidet an Muskelschwund, einer fortschreitenden Krankheit. Der 43-Jährige mit dem gekräuselten schwarzen Bart und den blitzenden Augen unter der Glatze trägt eine schwarze Lederhose. Unter den Baywatch-Maßstäben leidet er nicht so sehr: „Eine Frau, die sich mit drei Kilo Übergewicht rumschlägt, ist verbitterter“, sagt er trocken. „Für uns dagegen ist klar: du nicht.“ Vor zwei Jahren hat er „Sexybilities“ ins Leben gerufen und berät seitdem Behinderte in Sexualfragen.

Fast täglich rufen Leute beim Beratungstelefon an, überwiegend Männer. Die Anfragen sind meist sehr konkret: Kann ich meinen Assistenten bitten, mit mir ins Bordell zu gehen oder ins Pornokino? „Das hängt ganz stark vom Einzelnen ab“, meint Vernaldi. Es gäbe durchaus Helfer, die so etwas interessant fänden. Für problematischer hält er die Bitte an den Assistenten: „Kannst du mir nicht beim Masturbieren helfen?“ Da begäben sich die Leute unter Umständen in eine Abhängigkeit, die ihnen schaden könne. „Sexybilities“ hilft aber auch ganz konkret: „Wir vermitteln Kontakte zu Prostituierten, die sich auf Sex mit Behinderten spezialisiert haben“, sagt Vernaldi. Von den Forderungen des „Kuratoriums Behinderung und Sexualität“ jedoch, dies als Kassenleistung anzuerkennen wie in Dänemark und Holland, hält er wenig. „Ich finde es schädlich für das Thema, wenn Sexualität Behinderter schon wieder therapeutisiert werden muss“, sagt Vernaldi. Aber: „Den Leuten, die die stärksten Nöte haben, nützt es wenig, einfach politisch korrekt zu sein.“

Die stärksten Nöte haben vor allem Behinderte in Heimen: Mehrbettzimmer, kein eigenes Telefon, ständig unter Beobachtung: „Gegen einen Freund kann man ja schlecht was sagen, aber gegen eine Hure schon“, sagt Vernaldi. Auf der Bühne der Disko tragen die Gewinner des Lyrikwettbewerbs, den „Sexybilities“ ausgeschrieben hatte, Gedichte vor. Der zweite Preisträger, Claus Lutz, Rollstuhlfahrer im blauen Wollpullover, erzählt die Geschichte seiner Liebe zu einer Russin mit roten Haaren. Romantisch, zärtlich. Und endet: „Ich dachte über meine guten Vorsätze nach und ob ich ihnen treu bleiben würde oder ich mir in ein paar Jahren wieder eine Prostituierte holen würde.“

Inzwischen ist die Disko voll. Etwa 30 Rollstuhlfahrer brauchen viel Platz. Nur zögernd trauen sich zwei, drei von ihnen auf die Tanzfläche. Die, die beide Arme und Beine bewegen können, tanzen anfangs noch vorsichtig, als ob sie sich dafür entschuldigen wollen. Ein kräftiger Mann wirbelt den Rollstuhl einer jungen Frau mit blondierten Haaren herum. Ihr Gesichtsausdruck ist angespannt. Eine andere fährt mit ihrem elektrischen Wagen kreuz und quer über die Tanzfläche, sie lächelt vergnügt, bewegt die Lippen zum Text. „Das größte Problem für behinderte Frauen ist es, einen Partner zu finden“, erzählt Daniela von Raffay, die mit drei Jahren an Polio erkrankt ist. Die gestandene Münchnerin im sonnenfarbigen Hemd engagiert sich seit vielen Jahren für behinderte lesbische Frauen und hat selbst eine Gruppe zum Thema Behinderung und Sexualität geleitet.

„Ganz häufig verlieben sich die Frauen in ihre Assistenten.“ Schwierig, wenn diese einen dann ständig anfassen, waschen müssen. Einen Partner zu finden ist schwer, ein One-Night-Stand beinahe unmöglich: „Für Behinderte fallen ja meistens die üblichen Anmachsituationen wie Disko weg.“ Viele Behinderte stünden sich aber auch selbst im Weg mit ihrem negativen Selbstbild. Dagegen macht sich Daniela von Raffay stark: „Wir sind keine Opfer und schon gar keine Opferinnen“, betont sie, womit sie auf die Frage nach der doppelte Diskriminierung als Frau und Behinderte anspielt. Sie selber habe nie Probleme gehabt, eine Partnerin zu finden. Dass ihre Mutter die Homosexualität allerdings bei ihrer nicht behinderten Schwester genauso gebilligt hätte, glaubt von Raffay nicht: „Meine Mutter war der Meinung, dass ich sowieso keinen Mann abkriege.“ So aber habe sie dann „wenigstens“ Partnerinnen gehabt.

Das „Sexibility“-Beratungstelefon hat die Nummer (0 30) 68 08 05 76