„Schirri! Schirri!“

Bayern München wurde am Samstag nach einem unglaublich spannenden Herzschlagfinale wieder Deutscher Meister. Eine Reportage vom letzten Spieltag

MÜNCHEN/DORTMUND/LEVERKUSEN taz ■ Manches Stadion verwandelte sich am Samstag in ein Meer der Tränen. Freudentränen hier, Tränen der Trauer dort. Und am Ende gewinnen immer die Bayern. Doch wieder einmal sollte ein Schiedsrichter die entscheidende Rolle am letzten Bundesliga-Spieltag übernehmen.

Wer geglaubt hatte, die Spannung des vergangenen Jahres, als Bayern München in der 94. Minute den Titel gewann, ließe sich nicht mehr überbieten, wurde an diesem Wochenende eines Besseren belehrt. Diesmal war es die 95. Minute, in der der Sieg für die Bayern feststand. Zurück blieben weinende Leverkusener und trauernde Dortmunder.

Dabei sah alles zunächst gut aus für Bayer Leverkusen, das schnell gegen Hertha BSC in Führung ging. Schon in der fünften Minute erzielte Neuville das 1:0 für Leverkusen, das die Führung bis zur Pause durch zwei Tore von Ballack und Schneider sogar noch ausbaute. Bayer-Manager Rainer Calmund strahlte in der Halbzeitpause über alle Backen, besonders als das Ergebnis aus Dortmund bekannt wurde: 0:1 für Werder Bremen. Und in München waren die Bayern zur Pause über ein 0:0 gegen Hansa Rostock nicht hinausgekommen.

Die trotz der guten Ausgangslage als Spitzenreiter übernervösen Dortmunder hatten sich zunächst von den Bremern in die Defensive drängen lassen. Die Ballkünstler Amoroso und Rosicky waren sichtlich überfordert und bekamen gegen die starken Bremer Verteidiger buchstäblich kein Bein auf den Boden: Foul reihte sich an Foul in einer bis dahin schwachen Partie.

Inzwischen schienen die Bayern aus den Fehlern der ersten Halbzeit gelernt zu haben. Stefan Effenberg zauberte plötzlich, als wolle er zum Abschied alles bieten, was so lange in der Saison an seinem Spiel vermisst wurde. In der 56. Minute dribbelte er sich durch die Rostocker Reihen und schlenzte den Ball zum 1:0 ins rechte Eck. Erstmals jubelten die Bayern, und der Treffer wurde zur Initialzündung – ausgerechnet für Hertha BSC Berlin, das plötzlich in der Leverkusener BayArena aufspielte: 1:3 Preetz, 2:3 Marcelinho, 3:3 Alves – von der 62. Minute an reichten drei Sturmläufe, um Bayer Leverkusen den Traum vom ersten Meistertitel zu rauben. Steif humpelten die Helden von Manchester über das Grün. Bis auf die Tribüne war das Knacken der nach einer langen Saison geschundenen Leverkusener Knochen zu hören. Beim 3:4 durch Preetz in der 85. Minute wurden die Haare von Trainer Klaus Toppmöller noch grauer, als sie es ohnehin schon sind. Bitteres Schweigen im Leverkusener Rund.

Im Westfalenstadion raffte sich derweil die Borussia noch einmal auf. In der 72. Minute fällt Amoroso im Strafraum – Elfmeter! Der Brasilianer tritt selbst an, zögert kurz, täuscht den Bremer Torwart Rost und schießt platziert ins untere linke Eck – 1:1. Das Dortmunder Publikum bejubelt mit Amoroso den Torschützenkönig der Saison. Zu diesem Zeitpunkt in der 85. Minute war Bayern München bereits Meister: 1:0 im Olympiastadion; 3:4 in der BayArena; 1:1 im Westfalenstadion. Bayern führte mit einem Punkt Vorsprung. Doch jetzt überschlugen sich die Ereignisse.

Michael Ballack bewies, dass er in dieser Saison zu einem Weltklassespieler gereift ist. Ballack biss sich durch. Ein gewaltiger Schuss aus 34 Metern, und in der 87. Minute hieß es 1:1. Einziger Wermutstropfen: Der ohnmächtige Rainer Calmund musste auf der Tribüne von sechs Sanitätern aus seinem engen Plastiksitz geschält und in die Kabine gehievt werden. Aber Bayer war zurück im Rennen, denn jetzt tat sich Überraschendes in München. Eine Unaufmerksamkeit von Verteidiger Sagniol nutzte der Rostocker Arvidsson zum glücklichen Ausgleich. Noch zwei Minuten waren zu spielen.

Drei Unentschieden! 1:1 in München; 4:4 in Leverkusen; 1:1 in Dortmund – das hätte der Borussia gereicht, der Punkteabstand war wie vor dem Saisonfinale jeweils ein Punkt: Dortmund vor Leverkusen vor München. Aus! Schiedsrichter Herbert Fandel besiegelte in Leverkusen mit seinem Abpfiff das Ende der Meisterträume von Bayer. Auch das Spiel im Westfalenstadion wurde von Schiedsrichter Edgar Steinborn beendet. Jetzt hieß es wieder einmal Dortmund oder Bayern. In München würde die Partie noch fünf Minuten dauern, da das Spiel wegen des Zuschauerandrangs später angepfiffen worden war. Jetzt aber sollte Schiedsrichter Jürgen Jansen aus Essen seinen großen Auftritt bekommen.

Zäh verteidigen die Rostocker in der eigenen Hälfte ihr Unentschieden. Zahl- und kopflose Steilpässe von Effenberg verfangen sich in der Hansa-Mauer, bis in der 95. Minute ein sichtlich erregter Torhüter Oliver Kahn an die Mittellinie läuft, den Ball führenden Effenberg von hinten rüttelt und ihn weit hörbar anraunzt: „Immer weiter! Immer weiter!“ Wie in Trance tänzelt Effenberg jetzt auf den rechten Flügel, umkurvt zwei Verteidiger. In der Mitte auf Ballhöhe aber ist Schiedsrichter Jansen mitgelaufen, verfolgt einen Doppelpass zwischen Salihamidzic und Effenberg, der fast bis auf die Höhe der Außenlinie gelangt ist und fallend, mit letzter Kraft eine Flanke Richtung Strafraum schlägt. Zeitlupenartig senkt sich der Ball über den Köpfen der Rostocker Spieler, die ihre Gegenspieler eng decken. Jancker fällt im Fünfmeterraum – am Trikot gehalten. Der Ball überfliegt alle, selbst den Rostocker Torwart Pieckenhagen, kommt am linken Pfosten herunter – und da steht der einzige freie Mann des Spiels und köpft den Ball ins Netz. Eisiges Schweigen selbst in der Kurve der Bayern-Fans. Einen Moment lang starrt Schiedsrichter Jansen dem Ball nach, dann reibt er sich den brummenden Schädel, schaut zu seinem Linienrichter, der wild mit der Fahne fuchtelnd Richtung Anstoßpunkt läuft – und Jansen gibt den Treffer, den er soeben erzielt hat.

Als die Rostocker aus ihrer Verblüffung erwachen, bestürmen sie den wie angewurzelt im Fünfmeterraum stehenden Schiedsrichter, der mit einem Regelbuch in der Hand versucht die Wogen zu glätten. Später wird Jansen vor den Kameras ein ums andere Mal erklären, dass der Treffer völlig regulär erzielt worden sei, weil der Schiedsrichter nichts anderes als eine Eckfahne oder ein Torpfosten sei. Er wäre „quasi Luft“ gewesen, wie Jansen immer wieder betont, bevor er unter Polizeischutz aus dem Stadion gebracht wird.

Bayern München ist Meister, und München feiert. Die Nacht des Manns in Schwarz. „Danke, Schirri, danke“, skandierten Tausende von Fans, die in die Biergärten zogen und nach diesem unglaublichen Bundesliga-Finale bis in den Sonntagmorgen hinein mehrere Maß Beruhigungstropfen einnehmen mussten.

MICHAEL RINGEL