Der Enthüller

Von wegen Realismus: Wolfgang Hilbig, der schreibende Arbeiter aus der DDR, bekommt den Georg-Büchner-Preis

„Greif zur Feder, Kumpel!“: Als die SED in den Fünfzigerjahren die Arbeiter der DDR unter diesem Motto zum Schreiben aufforderte und die Schriftsteller „an die Basis“ schickte, da hatte man nicht mit einem wie Wolfgang Hilbig gerechnet. Als man auf die „Vereinigung von Kunst und Leben, Künstler und Volk“ drängte und den „Sozialistischen Realismus“ ausrief, hatte man nicht erwartet, dass Wolfgang Hillbig diese vollmundigen Devisen beim Wort nehmen und auf eine Art den Produktionsalltag beobachten würde, die nicht viel zu tun hatte mit der „Begeisterung für bahnbrechende Produktionstaten“ und einem „neuen sozialistisches Lebensgefühl“, „Parteilichkeit“ und „Volkstümlichkeit“. Endlich mal ein Autor, der unverstellt die Arbeitswelt der DDR beschrieb: Für diese Klarsicht wurde Wolfgang Hilbig schon früh im Westen gelesen und geschätzt; seit 1983 hat er zehn Literaturpreise bekommen, den elften, bedeutendsten, den Georg-Büchner-Preis, wird er in diesem Jahr erhalten. Jetzt fehlt fast nur noch der Kleist-Preis.

In der DDR hatte es Hilbig dagegen schwer. Dabei wäre er so richtig nach dem Geschmack seines „Arbeiter-und-Bauern-Staats“ sein könnnen: Wolfgang Hilbig, Jahrgang 1941, ist in Meuselwitz, in der kaputten Landschaft eines der wichtigsten Braunkohlegebiete der DDR, groß geworden, in der Familie seines Großvaters, eines Bergarbeiters und Analphabeten. Nach acht Jahren Schule machte er eine Lehre als Dreher, später arbeitete er als Werkzeugmacher, Monteur, Hilfsschlosser, Heizer. Sein ersten Gedichte entstanden 1967, als er an Zirkeln schreibender Arbeiter teilnahm. Mit Wolfgang Hilbig erfüllte sich das Klischee vom schreibenden Arbeiter und gleichzeitig flog es mit Krach auseinander: Es ist kein Zufall, dass seine ersten Gedichte vierzehn Jahre später nur in Westdeutschland erscheinen konnten. Von Beginn an beschrieb Hilbig den Substanzverlust des Individuums in einer autoritären, pseudorevolutionären Gesellschaft, die Sehnsucht, aus einem fremdbestimmtem Leben auszubrechen. Dass Hilbig in seiner Situation nie das Privileg hatte, vom guten Kern einer sozialistischen Gesellschaft zu träumen, machte ihn in den Achtzigerjahren für eine junge Generation von DDR-Schriftstellern interessant, die sich nicht mehr um die Hoffnungen der Älteren scherten.

1985 siedelte Hilbig nach Westdeutschland über. Sein Roman „Ich“ von 1993 ist ein genauer und düsterer Gesellschaftsroman über Lebenskatastrophen und Versagensphobien in der zerbröckelnden DDR. In seinem Roman „Das Provisorium“ von 2000 aber funktionierte Hilbigs Misstrauen gegen die Wirklichkeit, wie sie oberflächlich zu sein scheint, nicht mehr. Dreißig Jahre lang hatte er gegen die Ideologie und Propaganda der DDR angeschrieben, die Beschreibung der westlichen Gesellschaften funktionierte mit dem Gestus der literarischen Moderne nicht mehr, den Lack der Zivilisation abzukratzen und verborgene Wahrheiten freizulegen. „Das Provisorium“ beschreibt einen DDR-Schriftsteller, wie er sich im Westen von Bahnhof zu Bahnhof bewegt, wo „das Räuberische waltet“. Er findet keine Halt in einer Welt, in der die Menschen erst menschlich werden mit vollen Einkaufstüten in der Hand. Die Gegenwart jedenfalls fängt Hilbig fast dreizehn Jahre nach dem Untergang der DDR nicht mehr ein. SUSANNE MESSMER