Keine Pflege deutscher Gemütlichkeit

■ Der israelische Dissident Avnery bekam den Oldenburger Ossietzky-Preis. Er ermutigte die Deutschen zur Kritik an seinen Landsleuten: „Von einem Freund möchte ich, dass er mir die Wahrheit sagt“

„Wenn es Verrat ist, dann sind wir Verräter. Wenn es Patriotismus ist, dann sind wir Patrioten.“ So skizziert Uri Avnery selbst sein Friedensengagement in seiner Heimat, dem kriegführenden Israel. Ein Engagement, für das dem 79-Jährigen am Sonnabend in Oldenburg der zehnte „Carl von Ossietzky Preis“ verliehen wurde. „Ich betrachte den Preis als Ehrung aller FriedensaktivistInnen in Israel und Palästina“, sagte ein gerührter Preisträger.

Avnery verließ 1933 als Zehnjähriger mit seiner Familie Deutschland – in dem Jahr, in dem Hitler an die Macht und Ossietzky ins Gefängnis kam. Die diesjährige Wahl der Jury – ihr gehören unter anderem die Leiterin des Goethe-Instituts Jutta Limbach und der Journalist Klaus Bednarz an – war sehr politisch gemeint. Sie zielte direkt ins Zentrum herrschender Selbstverständlichkeiten, wie es Herausgeber Eckhard Spoo als Laudator zuspitzte: “Freunde warnten mich, für die Würdigung eines Dissidenten aus Israel könne ich mit Beifall von Antisemiten rechnen. Oder von solchen Menschen, die immer darunter leiden, wenn sie als Deutsche an den Holocaust erinnert werden.“ Wer aber von der Auszeichnung die Pflege deutscher Gemütlichkeit erwarte, solle enttäuscht werden.

Auch Avnery warnte vor unkritischer Solidarität Deutschlands mit Israel: „Es ist eine unannehmbare Manipulation, jede Kritik als antisemitisch abzutun. Das Gedächtnis des Holocaust darf nicht manipuliert werden, um Unrecht zu rechtfertigen.“ Diese Haltung sei „unmoralisch“. Avnery: „Ich möchte von einem Freund, dass er mir die Wahrheit sagt.“

Auch Avnerys Aktionsformen sind nicht rein publizistisch. Mit knapp fünfzehn Jahren wurde er Mitglied einer Widerstandsgruppe gegen die britische Besatzung. Das bestärkte ihn darin, dass Politik Handeln bedeutet. Seitdem ist Avnerys Arbeit im Friedensblock „Gush Shalom“ ständiges Ärgernis in Israel. Auch jetzt schlich er sich an der Armee vorbei nach Ramallah und ließ sich mit Tränengas beschießen, um Arafat persönlich zu begegnen. 1982 hatte ihm eine ähnliche Aktion eine Anklage als Landesverräter eingebracht. Avnery: „Nur die persönliche Begegnung bringt uns weiter. Sharon lehnt das ab.“ Dennoch: Von seinem Freund Joschka Fischer, den er in den 80ern beim Einzug in den Bundestag begleitete, ist Avnery sehr enttäuscht. „Als Arafat eingesperrt wurde, war das der his-torische Moment für Fischer, ihn zu besuchen. Er war aber nicht da“, sagte Uri Avnery auf einer Podiumsdiskussion. „Europa hat ein Problem, das ist Zivilcourage. Der Kontinent ist feige und unterwirft sich den USA vollkommen.“ Es sei fatal, Israel nach wie vor als Vor-posten Europas im Nahen Osten zu betrachten. Eine Zukunft hätten die Israelis nur als Föderation, als jüdische Semiten unter arabischen Semiten.

Als Vorbild nannte Avnery die Europäische Union. Die Geschichte Europas mache ihm Mut. „Deutschland und Frankreich mussten erst schreckliche Kriege führen, um Freunde zu sein.“ Eine ähnliche Entwicklung scheine nun in Israel ihren Höhepunkt zu finden. Avnery: „Wir müssen durch einen Tunnel des Blutvergießens gehen.“ Im Prinzip wüssten alle, wie der Frieden im Nahen Osten aussehen müsse: „Ein freier Staat Palästina in allen besetzten Gebieten des Ghaza-Streifens und des Westjor-danlandes mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt Israels und Palästinas, die Auflösung aller israelischen Siedlungen und eine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge.“ Sharons Politik aber gehe von der Doktrin aus, die zu Israels Gründerzeit geherrscht habe. „Damals dachte man, man lebe in einem leeren Land.“ Nach geltendem internationalen Recht „ist das, was hier passiert, ein Kriegsverbrechen“, warnte Avnery. „Weitere Demütigungen darf sich die internationale Gemeinschaft von Sharon nicht bieten lassen.“ Marijke Gerwin