Schwerer Abschied von der Macht

Viele Abgeordnete erlebten den letzten Parteitag als Berufspolitiker: Sie kehren nicht ins Parlament zurück

WIESBADEN taz ■ „Politik ist suchtbildend“, sagt Christian Sterzing, Politiker. „Wenn man sich noch eine kleine Resozialisierungschance haben will, muss man rechtzeitig aussteigen.“ Sterzing ist 53 Jahre alt, grüner Bundestagsabgeordneter – und am 22. September will er Schluss machen mit der Droge namens Macht. Als für 750 Delegierte der Parteitag anfängt, beginnt für Sterzing der Entzug. Die Grünen-Bundesdelegiertenkonferenz von Wiesbaden wird die letzte sein, die er als Berufspolitiker besucht.

Der Mann ist nicht allein. Ein Drittel aller grünen Abgeordneten kehrt im Herbst nicht wieder in den Bundestag zurück. Manche freiwillig wie Sterzing, manche nach verzweifelten Kämpfen um sichere Listenplätze wie Andrea Fischer. Manche, ohne als Politiker je aufgefallen zu sein – wie der Richter Helmut Wilhelm aus Bayern. Andere, obwohl sie Oswald Metzger heißen – und sich gerne damit schmückten, sogar den Kanzler in Rage versetzen zu können. Die Brigade der Adiosos läuft quer zu allen Flügeln und Generationen – vom 29-jährigen Kriegsgegner Christian Simmert bis zum 70-jährigen Interventionsverfechter Helmut Lippelt. Hart traf es die Außenpolitiker – und die Linken. Schon schwant Irmingard Schewe-Gerigk, die als Einzige von sieben Gegnern des Kosovo-Einsatzes ins Parlament zurückkehren wird: „Die Linkentreffen der Bundestagsfraktion können wir demnächst in einer Telefonzelle abhalten.“

In Wiesbaden fällt auf, wie viele der scheidenden Abgeordneten gar nicht erst angereist sind. Der Schwabe Oswald Metzger sparte sich das Ticket ins Hessische, auch Exministerin Andrea Fischer fehlte. Dabei sind Parteitage bei Politikern meist so beliebt wie unter Schülern die Fahrten ins Landschulheim – freiwillig verpasst sie keiner. „Ich verstehe, dass der nicht kommt“, sagt eine Abgeordnete mitleidig über einen Kollegen ohne Zukunft in der Fraktion, „der muss sich jetzt allmählich ablösen von dem ganzen Betrieb.“

Gleichzeitig gilt: Nicht jeder, der gekommen ist, ist auch wirklich da. Der Körper des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele sitzt an diesem Samstag Vormittag in der Wiesbadener Rhein-Main-Halle. Seine Gedanken sind sechshundert Kilometer östlich in der Berliner Karl-Marx-Allee. Sie wurde einst zu Stalins Ehre erbaut, jetzt gehört sie zu Ströbeles Wahlkreis. Bis halb elf Uhr nachts hat er gestern dort diskutiert. Weil er keinen Listenplatz bekam, kämpft er um ein Direktmandat. Natürlich ist er chancenlos. Trotzdem läuft er in jeder freien Minute durch Ostberliner Treppenhäuser. Viele Menschen dort würden ja in Plattenbauten wohnen, sagt Ströbele, „leider“. Es bleibt unklar, ob sich das Bedauern auf die ästhetische Differenz zu Kreuzberger Altbauwohnungen bezieht oder auf die Hartleibigkeit, mit der die Plattenbaubewohner PDS wählen. Ströbele blättert etwas verloren in der Zeitung. „Ich lese ja jetzt immer Neues Deutschland.

Für Politiker in der Spaßgesellschaft ist die Beteuerung unerlässlich geworden, jederzeit aufhören zu können. Die Wirklichkeit schaut anders aus. Nach ein paar Jahren verwächst die Politik mit dem Politiker. Wer dann Abschied nehmen muss, trennt sich von der Macht nur unter Schmerzen – als wär’s ein Teil des Selbst. Womöglich durchleiden die grünen Abschiedskandidaten nur frühzeitig, was dem Rest der Partei im Herbst bevorsteht. Wiesbaden, so mutmaßten Skeptiker am Wochenende, könnte der letzte Parteitag sein, den die Grünen als Regierungspartei erleben.

Angelika Beer ist 1990 schon einmal aus dem Bundestag geflogen. Die Grünen hatten die Fünfprozenthürde verpasst. „Da mussten wir innerhalb von zehn Tagen aus unseren Büros raus, heute habe ich fünf Monate Zeit.“ Auch Beer hat keinen Listenplatz. „Ich gucke, wie sich der Stress abbaut.“ Angefeindet von links, angefeindet von rechts, umgeben von Personenschützern des BKA. Ihre Liebe zu einem Bundeswehroffizier hat sie selbst zum Thema gemacht, in der „Bunten“. Als verteidigungspolitische Sprecherin war die Joschka-Fischer-Vertraute eine wichtige Frau. War? Bis zum Herbst kann noch einiges passieren, sagt sie sofort. Nahost, Irak, wer weiß. Es fällt schwer, loszulassen. Das Handy klingelt, das Gespräch ist kurz. „Jetzt kommt der nächste Schock für meine Partei.“ Beer lächelt. „Mein Soldat ist da.“ PATRIK SCHWARZ