Radikaldemokratisch und tolerant

Die Wiener Feministinnen Edit Schlaffer und Cheryl Benard porträtieren mit viel Sympathie die außergewöhnliche afghanische Frauenorganisation Rawa, die schon zu Zeiten des Taliban-Regimes geheime Schulen und Krankenhäuser für Frauen eingerichtet hat

Die merkwürdigen E-Mails kursierten jahrelang. Man wurde auf die verheerende Lage der Frauen in Afghanistan aufmerksam gemacht, unterschrieb einen Aufruf und mailte ihn weiter. So sah ein gut Teil der öffentlichen internationalen Solidarität mit den Frauen in Afghanistan aus.

Lang ist’s her. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 änderte sich die Lage schlagartig. Dass die zur feindlichen Macht aufgestiegenen Taliban Frauen systematisch einsperrten und misshandelten, konnte plötzlich als moralische Rechtfertigung für den Angriff auf Afghanistan benutzt werden. Und eine kleine Organisation kam unerhört schnell zu ungeahnten Ehren: Rawa, die Revolutionäre Vereinigung der Frauen in Afghanistan. Sie unterhielt illegale Schulen für Mädchen und Krankenhäuser für Frauen. Zudem sammelte und verbreitete sie Informationen über die Untaten der Taliban, die in in aufrüttelnden E-Mails durch die virtuelle Welt geisterten. Jetzt wollte alle Welt diese heroischen Frauen unterstützen, aparterweise genau zu dem Zeitpunkt, an dem ihre Leidensfrist sich dem Ende zuneigte. Geheim, wie die Organisation arbeitete, blieben nähere Informationen über Rawa Mangelware. Ihre Botschafterinnen tourten namenlos durch die Welt, ihre Informationen beruhten vor allem auf Augenzeugenberichten. Nicht selten kursierten deshalb seltsame Geschichten über Rawa: Maoistinnen seien sie oder sogar „vom pakistanischen Geheimdienst unterwandert“, wie das Auswärtige Amt einem Hilfswilligen hinter vorgehaltener Hand mitteilte.

Das Mysterium Rawa ausführlich beschrieben haben nun die Wiener Sozialforscherinnen und Feministinnen Edit Schlaffer und Cheryl Benard. Die Leiterinnen der Wiener „Forschungsstelle für Politik und zwischenmenschliche Beziehungen“ setzen sich seit Jahren für die Vereinigung ein, besuchten sie oft und haben nun viele ihrer Mitglieder und Unterstützerinnen interviewt. Damit malen sie ein farbiges Bild der Organisation – auch wenn die Hauptfarbe Rosarot ist.

So beschreiben die Interviewten die Begegnung mit den mutigen, oft unter Lebensgefahr agierenden Rawa-Aktivistinnen oft als quasi therapeutisch wirkendes Erleuchtungserlebnis. Schlaffer und Benard schaffen es, die euphorischen Beschreibungen der dankbaren Frauen, oft Analphabetinnen in verzweifelten Situationen, plausibel zu machen. Es gelingt ihnen auch, das Außergewöhnliche an Rawa herauszustellen: Während andere islamische Frauenorganisationen sich aus Misstrauen dem Westen gegenüber lieber weiterhin dem Patriarchat in ihrer Kultur beugen, hat Rawa einen radikal demokratischen und säkularen Anspruch – und scheut sich nicht, ihn mit westlicher Hilfe zu vertreten.

Sie verschafften sich relativ früh eine gut ausgebaute, mehrsprachige Website. Über sie agieren sie in alle Welt, verbreiten Informationen, werben Geräte und Spenden ein, verkaufen Bücher, Zeitschriften und Accessoires (wie die aparte Männerunterhose mit Rawa-Logo). Via Internet halten sie auch die Frauenlobby bei den internationalen Organisationen auf dem Laufenden. Rawa konnte so kaum überhört werden. Zudem scheuen die Rawa-Aktivistinnen nicht die Zusammenarbeit mit dem anderen Geschlecht: Sie lassen sich von Männern unterstützen und bei gefährlichen Reisen oder Demonstrationen schützen.

Das ist außergewöhnlich, doch ist es auch aus der außergewöhnlichen Situation der Frauen in Afghanistan erklärbar. Rawa hat sich nicht aus dem frauenpolitischen Nichts der Taliban-Ära entwickelt, sondern entstand schon in den Sechzigerjahren im Kontext der internationalen linken Studentenbewegung. Aus dieser Ära hat Rawa sich die radikaldemokratischen Ideale und die „Westbindung“ bewahrt. Außergewöhnlich genug – aber kein Zeichen dafür, dass Rawa die „erste postmoderne Widerstandsbewegung“ darstellt, zu der Schlaffer und Benard sie stilisieren. Auch an anderen Stellen lassen sich die beiden Aktivistinnen von ihrer Begeisterung hinwegtragen. Afghanistan sei der Ort, so schreiben sie, an dem „die Frauen dieser Welt ihren Feinden endlich eine Entscheidungsschlacht lieferten – und siegten“. Richtig ist wohl eher, dass die USA ihren Feinden eine Entscheidungsschlacht lieferten. Die Befreiung der afghanischen Frau war dabei eine imageverbessernde Dreingabe. Sonst hätte wohl die internationale Gemeinschaft nicht bereits nach kürzester Zeit vehement daran erinnert werden müssen, dass es nicht ganz unnütz sein könnte, Frauen in Afghanistan auch politisch zu beteiligen.

Dennoch ist es verdienstvoll, die Organisation und ihre bemerkenswerten Leistungen bekannt zu machen. Wer wusste schon, dass Rawa in ihren (kostenlosen) Schulen modernste Unterrichtsmethoden anwendet? Und dass sie tatsächlich eine der ganz wenigen Organisationen ist, die keine Kompromisse mit alten oder neuen religiösen Fundamentalisten eingeht? Rawa steht deshalb auch der Interimsregierung unter Beteiligung der Nordallianz kritisch gegenüber und droht wegen dieser Haltung tatsächlich bei der Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens an den Rand gedrängt zu werden. Da kann noch ein bisschen mehr internationale Präsenz nicht schaden.

HEIDE OESTREICH

Cheryl Benard/Edit Schlaffer: „Die Politik ist ein wildes Tier. Afghanische Frauen kämpfen um ihre Zukunft“, 260 Seiten, Droemer Verlag, München 2002, 19,90 €