Las Vegas will kein Risiko

aus Las Vegas MICHAEL STRECK

Judy Treichel wartet vor dem Casino-Hotel und man spürt ihre körperliche Abneigung gegen die Welt der Zerstreuung. Sie trägt eine Jeans-Latzhose, schwere Schuhe, T-Shirt und volles graues Haar. Und einen Stoffbeutel voller Broschüren. Sie wird immer ungeduldiger, je länger der Mietwagen auf sich warten lässt. Nur weg hier. Laute Musik dröhnt aus Lautsprechern, leicht bekleidete Menschen strömen in die Sonne oder zu den Spielautomaten. Überall Cabrios, Neonlicht, Sonnenbrillen und das ewige Klingen der Münzen.

Judy Treichels Welt liegt außerhalb der Stadt, in der Wüste. Als sich Mitte der 80er-Jahre abzeichnete, dass die Regierung in Washington nördlich von Las Vegas ein nationales Atommüll-Endlager errichten will, gründete sie eine Bürgerinitiative, die Nuclear Waste Task Force. Seither hat die 62-Jährige ihr Leben ganz der Zukunft gewidmet. Einer Zukunft, die, sollte sie Wirklichkeit werde, die nächsten 10.000 Jahre andauern wird. Zugegeben, keine leichte Aufgabe in einer Stadt, die sich dem Vergessen verschrieben hat. Dem Mekka der Illusion, wo nur der Augenblick zählt und die Menschen hinpilgern, um dem Gestern und Morgen zu entfliehen.

Unermüdlich reist Treichel durch Nevada und die USA, um über das Projekt und seine Gefahren zu informieren. Anfangs finanzierte der Bundesstaat Nevada noch ihre kleine Organisation. Aber irgendwann versiegten die staatlichen Gelder und nun muss sie sich auch noch um die Finanzierung kümmern. „Es ist schwer, die Leute hier zu organisieren“, sagt sie. Las Vegas sei eine junge, anonyme Stadt, ohne gewachsene Strukturen. Jeden Monat würden sich rund 6.000 neue Bewohner niederlassen. Viele blieben nur kurz, auf der Suche nach dem schnellen Geld in der immer weiter wachsenden Tourismusindustrie.

Treichel ist fast schon ein Fossil in Las Vegas. Seit über 20 Jahren lebt sie hier. Einst folgte sie ihrem Mann, der auf dem Atomwaffen-Testgelände einen Job bekam. Denn neben den Casino-Königen hatte das US-Verteidigungsministerium nach dem Zweiten Weltkrieg die Wüste von Nevada für seine Spiele entdeckt. Irgendwann machte sie eine 180-Grad-Wendung, trennte sich von ihrem Mann, zog in eine Kommune und begann den Kampf gegen den Atomtod. Als Ronald Reagan ein Moratorium für Atomtests verfügte, wurde es ruhiger in ihrem Leben. Bis bekannt wurde, dass hier der gesamte Atommüll der USA entsorgt werden soll. Im Yuccaberg, eine Autostunde von ihrer Wohnung entfernt.

Die Fahrt geht vorbei an sich ausdünnenden Vorstadtsiedlungen, Straßenbordellen und verwaisten Spielhöllen. Judy erzählt von den 131 Reaktoren an 35 Standorten, von 77.000 Tonnen Atommüll, den es zu entsorgen gilt und ihrer Bewunderung für die Proteste in Gorleben. Plötzlich tauchen aus dem Nichts Jagdbomber auf, rasen in die Tiefe, verschwinden wieder hinter kargen Bergketten. Ein unbemanntes Aufklärungsflugzeug fliegt wie ein schwerfälliges Rieseninsekt parallel zur Straße. Szenen, die an Fernsehbilder aus Afghanistan erinnern. Hier trainiert die US-Luftwaffe. Dann Stille: Das Amargosatal. Es ist so heiß und trocken, dass der Schweiß auf der Haut sofort wieder verdunstet. Rechts von der Straße erstreckt sich ein militärisches Sperrgebiet, aus dem der Yuccaberg herausragt – ein eingestürzter Vulkankrater, bedeckt von schwarzer Asche. Doch auf der anderen Seite wohnen Menschen in der Wüste.

Radioaktive Pistazien?

Über das Tal sind Farmen verstreut. Ralph McCracken kam vor elf Jahren aus Kalifornien hierher. Land und Wasserrechte waren billig. Von seinem Haus schaut er direkt auf den Yuccaberg. Die Atomlobby versucht, Nevada als unbesiedelten Bundesstaat auszugeben: In Zeitungsanzeigen zeigt sie eine karge Mondlandschaft. „Uns gibt es gar nicht“, sagt McCracken. Doch der 55-Jährige züchtet Pferde, baut Futtermittel und Pistazien an. Neulich hat er in einer Studie gelesen, dass Nüsse die Radioaktivität besonders speichern, ähnlich wie Pilze. McCracken ist kein Mann der vielen Worte. Aber beim Thema Atommüll blitzt der Widerstandsgeist des alten Berkeley-Studenten auf. „Wir können doch nicht den Kopf in den Sand stecken. Das Projekt ist verrückt.“

Er misstraut den Aussagen der Regierung über die Sicherheit der unterirdischen Stollen, in denen in 300 Metern Tiefe die Stahlcontainer mit dem strahlenden Material für die kommenden 10.000 Jahre gelagert werden sollen. Er bestreitet vor allem, dass die Gegend vulkanisch nicht mehr aktiv ist. Aus seinem Brunnen sprudelt statt frischem kalten Nass warmes Wasser. McCracken zuckt mit den Achseln. „Können die mir mal erklären, woher das kommt?“

Natürlich kennt er die neuesten Untersuchungen, in denen auf die Gefahr eines Vulkanausbruchs hingewiesen wird. Eine Studie kam zum Ergebnis, dass radioaktives Regenwasser von den Atomtests aus den 50er-Jahren durch die porösen Gesteinsschichten gesickert ist – bis zu dem Niveau, wo die Container lagern sollen. Zwar regnet es selten, doch wenn, gehen heftige Gewitter nieder. Fazit der Forscher: In wenigen hundert Jahren könne radioaktives Material ins Grundwasser gelangen.

„Die Regierung versucht die Standards an den Berg anzupassen anstatt umgedreht“, sagt McCracken. Warum er bleibt? „Wegen der Nussbäume. Sie sind unsere Altersversorgung. Nach 15 Jahren sind die Erträge üppig.“ Ja, er habe mit seiner Frau vor einiger Zeit daran gedacht, die Gegend zu verlassen. Spätestens wenn sie schwanger geworden wäre. Aber die Ärzte hätten dann festgestellt, dass sie keine Kinder kriegen können. So versucht er mit Judy Treichel die Nachbarn zu mobilisieren. Denn die heiße und entscheidende Phase hat begonnen. Im Februar hatte Präsident George W. Bush dem Kongress offiziell empfohlen, den Yuccaberg als Atommüll-Endlager zu beschließen.

Zurück in Las Vegas. Egal wen man anspricht, beim Namen Yucca geht allen der Hut hoch. Die Geschäftsleute sind informiert. Und resigniert. „Die Regierung hat entschieden“, sagt eine Verkäuferin. Auch wenn eine breite Mehrheit laut Umfragen das Projekt ablehnt, glauben 68 Prozent, dass es unvermeidlich ist. Niemand sieht zwar eine ernsthafte Gefahr für den Tourismus, aber den Einheimischen ist nicht wohl in ihrer Haut. Manche überdenken ihre Zukunftspläne. „Ich habe meinen Hauskauf verschoben“, erzählt ein Ladenbesitzer. „Soll ich hier eine Familie gründen?“

Auch Politiker machen ihrem Ärger Luft. Oskar Goodman, demokratischer Bürgermeister von Las Vegas, nannte den Energieminister Spencer Abraham „ein Stück Müll“. Sein Parteifreund, Senator Harry Reid, bezichtigte Bush der Lüge. Auch von der republikanischen Seite wird scharf geschossen. Gouverneur Kenny Guinn sagt, der Präsident habe Nevada getäuscht. Bush hatte im Wahlkampf angekündigt, eine Entscheidung nur zu fällen, wenn sie auf soliden wissenschaftlichen Fakten beruht, und deswegen die vier Wahlmännerstimmen von Nevada bekommen, ohne die er jetzt weiter auf seiner Ranch in Texas säße. Was heißt solide, wenn selbst ein Kongressausschuss einräumte, dass 300 Fragen bislang ungeklärt sind?

Jeden Tag fünf Terrorchancen

Also hat der Gouverneur im Kongress sein Veto eingelegt. Startschuss für einen heftigen Schlagabtausch im Wahljahr. Das Abgeordnetenhaus wird wahrscheinlich das Veto überstimmen. Offen ist jedoch das Verhalten der Senatoren. Und die befinden sich plötzlich in einem Dilemma. Jeder Bundesstaat wäre froh, das Müllproblem endlich loszuwerden. Doch sie hatten die Rechnung bisher ohne den 11. September gemacht. Wie ein Gespenst kriecht eine Frage langsam in die Vorstellung der nach Sicherheit dürstenden Bevölkerung und seiner Volksvertreter. Wie gelangt der Müll eigentlich in den Berg? Die Antwort: Sollte das Endlager beschlossene Sache sein, werden 2.100 Atomcontainer pro Jahr tausende von Meilen durch 43 Bundesstaaten rollen. Fünf Container täglich, 24 Jahre lang. Da das Eisenbahnnetz schlecht ausgebaut ist, müssen normale Straßen benutzt werden, vorbei an Shoppingcentern und Reihenhäusern.

Fünf Chancen täglich für einen Terroranschlag. So lautet die Botschaft aus Nevada. „Wach auf Amerika“, heißt daher die PR-Kampagne, die wankelmütige Bundesstaaten überzeugen soll. Demnächst wird sogar eine Castor-Attrappe durch Großstädte fahren. Eine populäre Fernsehserie hat das Thema jüngst aufgegriffen, mit einem fiktiven Unfall eines Atommüll-Transporters und dem sich daran anschließenden Krisenszenario im Weißen Haus. Das Transportproblem könnte sich als stärkstes Argument erweisen, auch wenn die Atomlobby nun händeringend die Ängste zu zerstreuen versucht.

Diese Art Rückendeckung hatte Judy Treichel nicht erwartet. „Es sieht gar nicht so schlecht aus“, sagt sie. Zur Not könnten Gerichtsverfahren das Projekt um einige Jahre verzögern. Jüngst hätten mehrere nationale Umweltorganisationen in erster Instanz vor einem Gericht in Washington gewonnen, als sie gegen die zweifelhaften Standards der US-Umweltbehörde klagten. „Ein kleiner Sieg.“ Wenn der Müll dennoch kommen sollte, hätte Treichel endlich einen Grund, aus Las Vegas wegzuziehen.