Eine Stadt mit Luxusproblemen

Freiburg ist kein Ort wie jeder andere: Wo die Kinder schon mit Sturzhelm auf die Welt kommen, erhält der Sieg des grünen Kandidaten einen konservativen Beigeschmack

Das Bewusstsein der eigenen Privilegiertheit ist längst abhanden gekommen

FREIBURG taz ■ Freiburg, wollte uns die Beatformation Tocotronic in ihrem gleichnamigen Song vor ein paar Jahren weismachen, besteht nur aus Fahrradfahrern, Backgammonspielern und Tanztheatern. Das ist grundfalsch. In Freiburg gibt es außerdem Germanistikprofessoren, Straßenmusikanten, Psychotherapeuten, Sonnenblumenzüchter, Schauspielschüler, Ökoladenkunden und obendrein noch Fußballfans, die selbst nach einem Abstieg nicht wirklich traurig sind. Und alle haben sie am Sonntag den Grünen Dieter Salomon zum Oberbürgermeister gewählt.

Die 200.000-Einwohner-Stadt im südwestlichen Zipfel der Republik ist kein Ort wie jeder andere – nicht nur, weil es dort nach einer viel zitierten Statistik so viele Sonnentage gibt. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts begann die Stadt, sich selbst als Altersruhesitz für wohlhabende Pensionäre zu vermarkten, und dieses Flair ist trotz der vielen Studenten immer noch spürbar.

Die Arbeitslosenquote ist niedriger als ohnehin in Baden-Württemberg, soziale Brennpunkte sind kaum vorhanden. Mangels großer Industrie gabe es nie ein richtiges Proletariat, und es musste auch kein Strukturwandel bewältigt werden. Und weil Salomons Amtsvorgänger Rolf Böhme mit den wenigen modernen Pfunden „Universität, erneuerbare Energie, Tourismus“ einigermaßen planvoll gewuchert hat, ist Freiburg im bundesweiten Vergleich eine Stadt mit ausgesprochenen Luxusproblemen geblieben.

Sichtbar arme Menschen sieht man auf den Straßen kaum, keine schlecht gestochenen Unterarm-Tattoos wie in den U-Bahnen der fernen Hauptstadt, und im Lokalteil der Badischen Zeitung ist immer wieder Handtaschenraub ein Thema.

Manche Stadtteile haben mit mehr als 70 Prozent für den grünen Kandidaten gestimmt. Dort dominieren Wähler mit Hochschulabschluss, die einst zum Studieren nach Freiburg kamen und inzwischen mit ihren Familien in geräumigen Altbauwohnungen mit zwei Balkons und Ikea-Bücherregalen voller Suhrkamp-Bände leben.

Wer es einrichten kann, ist geblieben. Hier, wo Kinder schon mit Sturzhelm auf die Welt kommen, ein Film wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ Blockbuster ist und der Corsica-Ferries-Aufkleber auf dem Wohnmobil zum guten Ton gehört.

„Rettet die Unterwiehre“, steht seit geraumer Zeit auf einem Transparent in einem Freiburger Stadtteil, der andernorts locker als begehrtes großbürgerliches Wohnquartier durchginge. Der Grund: Es fahren mehr Autos durch die Straße, weil um die Ecke eine Straßenbahn gebaut wird. Per Bürgerbegehren wurde durchgesetzt, dass die Linie künftig über den Bertoldsbrunnen führt, das historische Zentrum der Stadt.

Das Festhalten an dörflichen Strukturen hier, das durch Gewohnheit abhanden gekommene Bewusstsein der eigenen Privilegiertheit dort – vielleicht ist es diese Mischung, die den klaren Wahlsieg des grünen Kandidaten so charakteristisch für Freiburg macht. Und ihm, bundesweite Vorreiterrolle hin oder her, zugleich einen derart konservativen Beigeschmack verleiht.

Dieter Salomon hat diese Wahl im idyllischen Freiburg so klar gewonnen wie nie zuvor ein grüner Kandidat irgendwo in der Republik. Ob man ihn deshalb gleich den ersten grünen Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt nennen sollte, ist eine ganz andere Frage.

MALTE OBERSCHELP