Heiliger Joseph!

Kiez-Kaffeebar mit Klavier für den Radetzkymarsch: Die Betreiber des „Ave Maria“ eröffnen eine dem Schriftsteller gewidmete „Joseph Roth Diele“

Dieter Funk ist ein Mann mit Visionen. Einer heiligen und einer weltlichen. Die heilige Mission erfüllt er seit 1996 mit seinem Laden „Ave Maria“, in dem er zusammen mit Partnerin Ulrike Schuster religiöse Devotionalien und Literatur verkauft. Der kleine, weihrauchgeschwängerte Laden bietet ein großes Angebot an Madonnenstatuen, Votivbildchen, geweihten Kerzen und Büchern und zieht damit Gläubige und Kitschliebhaber gleichermaßen an. Das „Ave Maria“ wird inzwischen von Reiseführern als schräger Shoppingtipp geführtund fand sogar im japanischen Fernsehen Beachtung.

Über diese Prominenz freut sich Dieter Funk ganz besonders. Nicht wegen des Umsatzes, der trotz aller Publicity mager ist, sondern wegen seiner weltlichen, umfassenderen Vision. „Mir geht es darum, Lücken zu schließen“, sagt er mit eindringlichem Blick. „Dieser Standort hier hat so viel Geschichte: Maler, Schriftsteller und andere Künstler lebten hier, heute erinnert nichts mehr daran. Wir wollen geschichtliches Bewusstsein wecken und der Sozialstruktur im Kiez auf die Beine helfen.“

In der Tat ist die Potsdamer Straße nicht viel mehr als eine Lücke zwischen Potsdamer Platz und Nollendorfplatz: hier rauscht der Durchgangsverkehr. Von der ehemaligen Amüsiermeile im Herzen Berlins ist nichts mehr zu spüren. Wer hier etwas aufbaut, ist Idealist.

Das Nachbarhaus des „Ave Maria“ ist wie geschaffen, es mit Visionen zu füllen. Die Potsdamer Straße 75 beherbergte in den Zwanzigerjahren eine Konditorei und wurde in letzter Zeit nur noch als Lager genutzt. Also holte das Unternehmerduo aus dem Schwarzwald eine dritte Frau, Caroline Mentz, ins Boot und machte sich mit Hilfe von Freunden daran, die Geschichte der Räume aufzuspüren. Man stieß auf einen schönen alten Steinkachelboden und sogar Originalrezepte für Backwaren. Und der Zufall wollte es, dass in der Nachbarschaft zwischen 1920 und 1925 der österreichische Schriftsteller Joseph Roth lebte, den Dieter Funk seit 20 Jahren verehrt. Joseph Roth, der nicht nur brillanter Journalist und Schriftsteller war, sondern auch Anhänger der Kaffeehauskultur, soll eben in diesem Café den Roman „Das Spinnennetz“ begonnen haben.

Die liebevoll in Eigenarbeit restaurierte „Joseph Roth Diele“ ist ganz dem 1939 verstorbenen Schriftsteller gewidmet und eröffnete am 1. Mai. Aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzte Zitate des Schriftstellers säumen die hohen Wände, auf der kleinen Bühne sollen regelmäßige Lesungen im Roth’schen Geist stattfinden. Auf dem Klavier in der Ecke wird Brygitte Mich am 3. Mai polnische Lieder singen, sonst steht es allen zur Verfügung. „Unser Café heißt Diele, damit es nicht so nach Hochkultur klingt“, erklärt Ulrike Schuster. „Wir wollen kein Schriftstellermuseum sein, sondern ein kultureller Treffpunkt mit Bodenhaftung für die Nachbarschaft.“ Kurz vor 22 Uhr, bevor die Joseph Roth Diele ihre Pforten schließt, steigt ein Glöckner aus einer roten Samtkiste und läutet mit wohlgesetzten Worten zur letzten Runde. Glöckner-Anwärter mit schauspielerischem Talent werden noch gesucht.

Ein Hauch von „Ave Maria“ liegt auch über der Joseph Roth Diele: die Wurstwaren und Eintöpfe liefert Bruder Tadäus vom Franziskanerhof in Zehdenick. Und auf den blauweißen Kacheln hinter dem Tresen blitzt ein kleines goldenes Heiligenbildchen. Vermutlich der heilige Joseph, der seinen Geist durch die Diele wehen lässt. Als ausgleichender Einfluss zu seinem trunksüchtigen Namensvetter und zum Wohle des Kiezes. NINA APIN