Reiter auf der Westerwelle

„Ich wurde im Ortsverein herzlich aufgenommen, das hat mir sehr gut gefallen“

aus Berlin und Magdeburg ROBIN ALEXANDER
und ULRIKE HERRMANN

Zumindest ein Leben hat die FDP schon durcheinander gebracht. Das Leben des 26-jährigen Peter Kehl. Eigentlich wollte der Jurastudent nächstes Jahr sein erstes Staatsexamen machen. „Aber dann kam der Landtag dazwischen.“ Im April hat Sachsen-Anhalt gewählt, und der Stimmanteil der FDP schnellte von 4,2 auf 13,3 Prozent nach oben. Das macht 17 liberale Abgeordnete, wo vorher keiner war. Und das macht Peter Kehl aus Halle plötzlich zum Mandatsträger.

Was bisher nur Jürgen Möllemann geglaubt hat, ist in zwei Bundesländern zumindest nahe gerückt: Der kleine Mehrheitsbeschaffer wandelt sich schon fast zur Volkspartei. Denn auch in Berlin, im letzten Oktober, sprang die FDP aus dem Nichts von 2,2 auf 9,9 Prozent. Der Spott über das „Projekt 18“ ist jedenfalls eingestellt. 18 FDP-Prozente bei allen Wahlen – dieses Ziel werden die Liberalen auch heute wieder bejubeln, auf ihrem Bundesparteitag in Mannheim.

Aber wer ist diese FDP eigentlich, die da in die Parlamente drängt? Es ist eben zum Beispiel Peter Kehl. Vor acht Jahren, mit 18, wurde er ein Liberaler. Das Parteiprogramm war nicht so wichtig wie die Atmosphäre im Ortsverein: „Ich wurde sehr herzlich aufgenommen, das hat mir gut gefallen.“ Ansonsten aber ist er für „die maximale Freiheit des Einzelnen“, ist für die Homoehe und gegen eine erweiterte Schleierfahndung.

Aber deswegen wurde die FDP nicht gewählt in Sachsen-Anhalt. Das Volk der selbst ernannten Volkspartei erwartet Arbeitsplätze. Das weiß Peter Kehl natürlich auch. Und setzt wieder auf die „maximale Freiheit des Einzelnen“. Unweltrichtlinien und Sozialgesetze will er entschärfen. „Man muss Prioritäten setzen.“ Und: „Die wirtschaftlichen Faktoren sind wichtiger als lieb gewonnene Einrichtungen.“ Diese gestanzten, harten Sätze passen gar nicht zu seinem weichen Gesicht.

Wenn es konkret wird, verheddert sich der Jungabgeordnete noch manchmal in den Versatzstücken seiner wirtschaftspolitischen Argumentation. So will er die Naturschutzgebiete „entschärfen“, weil sich „im Vorharz alle beschweren, dass sie ihre Hauseinfahrten nicht mehr so anlegen dürfen, wie sie wollen“. Möchte er die Unternehmen wirklich im privaten Vorgarten fördern? Da stockt Peter Kehl kurz, aber nur kurz, und lächelt wieder freundlich. Am wichtigsten sei sowieso das „Image“ eines Bundeslandes, um Investoren anzulocken. Und da hätte Sachsen-Anhalt ja jetzt eine „positive Meldung“ zu bieten: „dass die neue Landesregierung nicht mehr von der PDS gestützt wird“.

Wie Peter Kehl in Sachsen-Anhalt wurde auch Wolfgang Jungnickel in Berlin recht unerwartet ins Parlament gespült. Aber über den Vorwurf, ihm fehle es an Erfahrung, würde er einfach nur lachen: „Mit mir haben die Wähler 120 Jahre politische Erfahrung ins Abgeordnetenhaus geschickt!“ 120 Jahre? Sind wir etwa hier im tiefen Berliner Westen mit dem ältesten Abgeordneten der Welt verabredet?

Nicht ganz: Der 74-jährige Wolfgang Jungnickel hat einfach seine politisch bewusste Lebenszeit mit der seiner 73-jährigen Frau zusammengerechnet. „Politisch waren wir schon immer. Und immer gemeinsam.“ Gemeinsam Anfang der Fünfziger in die FDP eingetreten, gemeinsam später zur CDU und wieder zurückgewechselt, gemeinsam die „Kulturpolitik als unser Feld“ erschlossen.

Zwar zog im November 2001 nur der Mann von Brigitta Jungnickel ins Abgeordnetenhaus ein, aber sie verabredet für ihn Termine, schreibt seine Reden mit, sagt ihm, was er zu denken hat. Mit der Selbstironie, die Ehegatten von überlegenen Frauen eigen ist, nennt Jungnickel sie „mein Politbüro“.

Der sozialistische Begriff passt nicht in die hohe, helle Wohnung, die das Paar seit dem Einzug 1959 zu einem Museum westdeutscher Bürgerlichkeit ausgebaut hat. Der Tisch ist mit Porzellan gedeckt, zum Kaffee wird Gebäck gereicht, an den Wänden hängt Kunst eines Berliner Realisten, der in den späten Sechzigerjahren Avantgarde war.

Die grauen Haare hat Frau Jungnickel streng nach hinten gebunden, ihre Lesebrille ruht auf dem aufgeschlagenen Zeit-Feuilleton. Es ist, als würde hier ein liberales Damenkränzchen erwartet, nicht gerade mit Gräfin Dönhoff, aber vielleicht mit Margot Mende, die ihren Ehemann Erich Mende, FDP-Vizekanzler von 1963 bis 1966, angeblich jeden Morgen mit den Worten weckte: „Aufstehen, Erich, Karriere machen.“

Im Bistro des Magdeburger Landtags gibt Peter Kehl zu, dass ihm genau dieser Machtinstinkt fehlt. „Blauäugig“ sei er gewesen, urteilt er im Rückblick und kann es immer noch nicht fassen, wie die Listenaufstellung für die Landtagswahl im April lief. Er, der Landesvorsitzende der Jungliberalen, landete nur auf dem Listenplatz 14 – während ein anderer „Juli“ den viel aussichtsreicheren Platz 7 ergatterte. „Aber das ist ja nun egal“, tröstet sich Peter Kehl und lächelt schon wieder. Dank der Stimmenflut sind beide Konkurrenten drin.

Trotzdem trauert Peter Kehl manchmal der Zeit der Niederlagen nach, als man noch dachte, die FDP sei in einem halben Jahr tot. „Damals ging es noch nicht um Karriere, da waren wir eine verschworene Gemeinschaft, alle engagierten sich uneigennützig.“ Und als wollte er sich an diese Kuschelzeit erinnern, als es noch keine Würden zu verteilen gab, erscheint er nicht im Anzug, um seinen provisorischen Abgeordnetenausweis abzuholen. Hemd über T-Shirt – Peter Kehl sieht immer noch aus wie der Student, der sich auf dem Weg in die Juristenbibliothek verirrt hat.

Es ist noch gar nicht lange her, da schien die FDP auch in Berlin von gestern. Der Landesverband unterhielt nicht einmal mehr ein eigenes Faxgerät. Dass es nun anders ist, hat allerdings weniger mit dem Projekt 18 von Möllemann zu tun als mit der Konkurrenz. Die Berliner CDU blamierte sich mit einem Bankenskandal, und die SPD steuerte in Richtung PDS.

15 FDPler konnten so ins Abgeordnetenhaus einziehen. Eine Truppe, die kaum auf einen Nenner zu bringen ist. Der Fraktionschef ist ein Münchner Anwalt, der die FDP von innen kaum zwei Jahre kennt und Berlin nicht besser. Neben ihm sitzt eine patente Mutter von vier Kindern, die sich als Schulexpertin profiliert. Drei Abgeordnete gehören zu den so genannten Nationalliberalen, einer Gruppe, die in den Neunzigern versuchte, die Berliner FDP rechts von der CDU anzusiedeln.

Und dazwischen sitzt der altliberale Jungnickel, der nun im Kuturausschuss seine Steckenpferde reiten kann: Die Offtheaterszene liegt ihm am Herzen, den Abbau Westberliner Errungenschaften durch die rot-rote Koalition will er verhindern. Jungnickel, der schon zwischen 1971 und 1974 Abgeordneter war, ist zu alt, um sich Illusionen über die Wirkung parlamentarischer Arbeit zu machen. Seinen Vorschlag, die geplante Privatisierung der Musicalbühne „Theater des Westens“ auszusetzen, darf er nicht einmal ins Parlament einbringen, meinte seine Fraktion. „Gegen eine Privatisierung zu sein, passt wohl nicht mehr zur modernen FDP.“

„Gegen eine Privatisierung zu sein, passt wohl nicht mehr zur modernen FDP“

Moderne FDP? Die Abgeordneten halten nicht ganz, was die Liberalen im Wahlkampf versprachen. „Rexrodt“, plakatierte die Partei fast ausschließlich, doch der Spitzenkandidat und ehemalige Bundeswirtschaftsminister nahm sein Mandat nur wenige Wochen wahr. Neben ihm grüßten meist fast Halbwüchsige von den Plakaten, doch wer tatsächlich die FDP wählte, bekam nicht Jungpolitiker – sondern Jungnickel, der als Alterspräsident die wichtigste Rede seines Lebens halten durfte.

In Sachsen-Anhalt zeigten die Plakate auch einen alten Bekannten. Mit Hans-Dietrich Genscher hat der Wahlerfolg aber nichts zu tun, da wird der Abgeordnete Peter Kehl energisch. Der FDP-Grande stammt aus Halle und hatte dort Wahlkampf für die Liberalen gemacht. „Nebensächlich“, urteilt der junge Abgeordnete. „Vor vier Jahren war Genscher auch dabei, und da hatten wir nur 4 Prozent.“ Nein, die 16 Prozent Wählerstimmen in Halle, die gehören ihm.

Und so nimmt Kehl auf seiner Homepage (www.peter-kehl.de) gern die Glückwünsche seiner Fans entgegen. „Ich finde es klasse, dass es doch junge Leute gibt, die sich aktiv in der Politik engagieren“, schreibt eine Anett K. „Danke für die Wünsche“, antwortet Kehl. Es klingt ein bisschen wie bei Bravo.

Allerdings war die FDP in Sachsen-Anhalt schon einmal auf 13,5 Prozent gekommen. Das war 1990. Vier Jahre später flogen die Liberalen aus dem Landtag. Einen solchen Absturz kann sich Peter Kehl wieder vorstellen, aber eigentlich ist er optimistisch. In vielen europäischen Ländern lägen die Liberalen ja inzwischen bei 20 Prozent. Dass viele dieser Parteien rechtspopulistisch sind, lässt ihn nicht zucken. „Auch in der FDP gibt es solche und solche.“

Dem altliberalen Jungnickel war der Hype um die neue FDP schon immer suspekt: Plötzlich erschienen in der FAZ und im Spiegel lobende Artikel über eine Einundzwanzigjährige, die Tempelhof-Schöneberg aufmische. Tempelhof-Schöneberg? Das ist Jungnickels Bezirksverband. Der Veteran wundert sich noch heute: „Bemerkenswert war, wie lange diese Kampagne anhielt. Und bemerkenswert war auch, wie wirkungslos sie blieb.“ Nominiert wurde schließlich nicht der Medienliebling mit dem blonden Pferdeschwanz, sondern der weißhaarige Jungnickel.

In der altliberalen Stube klingt das alles sowieso komisch: Projekt 18. Jugendwahn. Westerwelle. „Das sind ja alles eher Phänome der Public Relation“, erklärt Wolfgang Jungnickel, altersweise genug, um zu wissen, dass man nicht mögen muss, wovon man profitiert.