Schlüsselereignis

Die Ethnologin Monika Rulfs hat untersucht, warum nach dem Verkehrstod des Mädchens Nicola in der Stresemannstraße eine große Protestbewegung entstand und nicht nach anderen Unfällen

von GERNOT KNÖDLER

taz hamburg : Frau Rulfs, am Ende Ihres Buches über „Protest und Verkehrspolitik in der Stresemannstraße“ schreiben Sie , dass Ethnologinnen, die sich mit einem weitgehen unberührten Gebiet befassen, neue Aspekte zutage fördern können. Was war denn die größte Überraschung für Sie?

Monika Rulfs: Dass es nicht die politischen Forderungen waren, die die Leute bewegten, sondern , dass es um existentielle Fragen ging. Die Menschen waren berührt. Ihnen ging es darum, in ihrem Leben etwas zu verbessern, mit einer Ungerechtigkeit nicht leben zu müssen. Das durch diese Interviews herauszufinden, war für mich das Überraschende.

Was sagt Ihre Untersuchung über die Verhältnisse in Hamburg?

Es sagt zum Beispiel über die Verkehrsverwaltung, dass sie wahnsinnig kompliziert ist, wobei viele Teile sehr wenig Einfluss haben. Die wichtigen Entscheidungen werden zentral getroffen. Meine Arbeit erklärt, warum Leute auf einmal ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen. Die Grundfrage war: Warum gingen die nach diesem Unfall auf die Straße und warum gehen sie sonst nicht auf die Straße? Warum akzeptiert die Gesellschaft diese vielen Verkehrstoten?

Sie haben selbst an den Protesten teilgenommen und später darüber geschrieben. Ergab das einen Rollenkonflikt?

Zu der Zeit, als ich protestierte, wusste ich nicht, dass ich das machen wollte. Ich wohnte direkt in der Nachbarstraße und beschloss erst später, darüber zu schreiben. Dann ist für mich das wissenschaftliche Interesse in den Vordergrund getreten. Während der Zeit , in der ich forschte, war ich „teilnehmende Beobachterin“. Ich war immer dabei, bei allem, was die Anwohnerinitiative tat, aber ich spielte keine führende Rolle und trat nicht nach außen hin auf.

Wie sind Sie darauf gekommen, den Protest zum Thema Ihrer Dissertation zu machen?

Zum Zeitpunkt des Protests hatte ich eigentlich vor, über die Baubehörde zu promovieren. Ich war dabei, mich einzuarbeiten, stellte dann aber fest: Dieser Fisch ist mir zu groß, das Thema „Korruption“ ist mir zu brisant. Außerdem dachte ich mir, dass ein konkretes Ereignis ein besserer Anknüpfungspunkt wäre und dass ich ein Thema brauche, an dem ich es schaffen würde, ein paar Jahre lang dranzubleiben.

Inzwischen wird wieder regelmäßig demonstriert, allerdings in viel geringerem Umfang. Ist eine Wiederholung der Ereignisse von 1991 denkbar?

Das glaube ich nicht. Die Energie, die die Leute heute noch haben zu demonstrieren, erwächst aus der Erkenntnis, dass die Situation durch die Verkehrsberuhigung besser geworden war. Es gibt allerdings noch die Erinnerung an die Gefühle, die damals im Vordergrund standen und die dazu führten, dass ganz Hamburg den Protest unterstützte.

Der Anwalt Manfred Getzmann hat Bausenator Mario Mettbach bei einer Podiumsdiskussion zum Rücktritt aufgefordert, falls wieder ein Kind sterben sollte. Würden sich in so einem Fall die Ereignisse wiederholen?

Ich denke ja. Es gibt viele Beispiele aus anderen Städten, wo auch so etwas passiert ist, wo besonders nach dem Tod eines Kindes starke Emotionen entstanden und die Leute sagten: „Wir unternehmen etwas.“ Anders ist das in einer Gesellschaft, in der sehr viele Kinder geboren werden und auch sterben. Heute in dieser Gesellschaft sind Kinder ausgesprochen wertvoll.