Die Kunst des Zusammenfügens

Out of Leipzig: Der Pianist Joachim Kühn verbindet die Free-Jazz-Impulse des legendären Saxofonisten Ornette Coleman mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Am Sonntag spielt er im Kammermusiksaal der Philharmonie

„Bach ist so universal, er schließt den Jazz mit ein“, ist Joachim Kühn überzeugt

Die Melodie bricht. Kurze, harte Sätze graben sich ins Klavier ein. Immer tiefer schrauben sie sich hinein, bis an den unteren Klangrand. Da, wo die tiefen Töne wohnen.

„Thougt of J. F.“ – eine Erinnerung an den verstorbenen französischen Bassisten Jean-François Jenny Clark. Und an „Die Kunst der Fuge“, den Bach’schen Kontrapunkt. Denn wer in Leipzig neben – und zum Teil auch in – der Thomaskirche aufgewachsen ist, dessen Sinnlichkeit baut sich auf Bach.

Dann ein langsamer, zärtlicher Blues, der sich auflöst in einer komplizierten Architektur der Klänge. In einer Variation über den Ton als universales Gleichnis. Afroamerikanischer, sich an Konventionen brechender Jazz trifft auf 250-jährige musikalische Denkstrukturen, Ornette Coleman trifft auf Bach.

„Sex Is for Woman“ heißt eine der vier Kompositionen des visionären Free-Jazz-Saxofonisten, die der Leipziger Pianist Joachim Kühn für sein Soloalbum „The Diminished Augmented System“ ausgesucht hat, eine von ihm entwickelte Improvisationstheorie, bei der nicht über Akkorde, sondern über Klänge improvisiert wird.

Seit acht Jahren ist Kühn mit dem von ihm bewunderten Ornette Coleman befreundet. Die Freundschaft entwickelte sich vorsichtig, über Musik.

Jahrelang hatte Ornette Coleman nicht mit Pianisten gearbeitet. Seine Klangform und sein „harmolodisches“ Konzept hatten bewusst das Klavier ausgeklammert. Das riesige Studio in New York ist angefüllt mit Kunst und Tonbändern. Er nimmt alles auf und hält es unter Verschluss. Oft lässt er Joachim Kühn einfliegen, um mit ihm eine seiner neuen Ideen auszuprobieren. Darüber sagt Kühn: „Unser Verhältnis ist sehr eng. Wir suchen neue Musiken, das ist eine ewige Notenfummelei.“

Das Album „Colours“ (Harmolodic) dokumentiert ihr zweites Zusammentreffen auf den „Leipziger Jazztagen“ 1996. Ornette Coleman bestärkte den heute 58-jährigen Kühn auch darin, Bach zu spielen. Aber nicht die Klavierstücke. „Da traute ich mich nicht ran, denn ich habe Glenn Gould gehört und er spielte perfekt.“ Kühn überarbeitete die Bach-Partituren für Violine. „Diese Geigensachen sind sehr jazzmäßig. Bach ist so universal, er schließt den Jazz mit ein.“ Auf der gerade erschienenen CD „Bach Now!“ improvisiert Kühn über die Melodien des jetzigen Thomaskantors G. C. Biller und des Thomanerchors, dessen Tradition im Jahr 1212 begründet wurde.

Biller ist der 16. Nachfolger Bachs und wohnt auch in der gleichen Wohnung wie dieser, in einem Nebengebäude der Thomaskirche. Er war es, der Kühn nach dem Erscheinen von „Diminished Augmented System“ (Emarcy) vorschlug, Bach und Jazz am Wirkungsort des damaligen Thomaskantors aufzuführen. Es ist eine Rückkehr mit dem ganzen Leben zur Kindheit. Der sechsjährige Junge in der Thomaskirche. Das Weggehen, weil ein politisches Bewusstsein erwacht. Das Leben in Amerika und dann, lange, in Paris. Jetzt seit 10 Jahren auf Ibiza. Einer Insel, auf der man diese Art, Musik zu denken, nicht unbedingt vermutet.

Es sind nicht endende Klangbeschreibungen gefühlter Momente. Das Gesicht der schlafenden Mutter, der Blick vom Haus. Flüchtige Augenblicke, die sich in den Gedanken festhaken. Und dann Komposition werden, Jazz.

MAXI SICKERT

Joachim Kühn spielt Coleman, Bach und Kühn: Am Sonntag, 20 Uhr, im Kammermusiksaal der Philharmonie, Herbert-von-Karajan-Str. 1, Tiergarten