Mannschaft ohne Chef

Ohne den nachtlebenerprobten Jan Ullrich muss das Team Telekom den Giro d’Italia bestreiten. Das bietet vor allem für die jüngeren Fahrer die Chance zur Bewährung. Zum Beispiel für Matthias Kessler

aus Münster SEBASTIAN MOLL

Eigentlich hätten sie beim Team Telekom allen Grund, auf ihren Kollegen Jan Ullrich sauer zu sein. Nicht bloß weil er die Tour de France abgesagt und der Mannschaft damit das große Saisonziel samt Motivation genommen hat. Sondern auch, weil eben an diesem Ziel die ganze Struktur der Saisonplanung orientiert war – und die ist nun plötzlich Makulatur.

„Hätte er sich eine Woche früher entschieden“, schimpft zum Beispiel Teamchef Walter Godefroot, „hätten wir Giuseppe Guerini als Klassements-Fahrer mit zum Giro genommen – mit einer realistischen Chance auf den Sieg.“ Stattdessen fährt Guerini jetzt die Friedensfahrt als Vorbereitungsrennen. Godefroot: „Jans Absage bereitet uns ganz schöne Probleme.“ Zum Beispiel: „Ich habe jetzt mit Kevin Livingston und Bobby Julich zwei teure Leute in der Mannschaft, mit denen ich nichts mehr anfangen kann. Die waren nur für Jan gedacht.“

Matthias Kessler hat mit Ullrichs Ausfall hingegen keine Probleme. Der 23-jährige Nürnberger war mit einem zweiten und einem dritten Etappenplatz die Entdeckung beim Giro des vergangenen Jahres und geht nun in Abwesenheit von Guerini und Ullrich als Top-Mann der Telekoms in die Rundfahrt, die gestern noch weit von Italien in Münster gastierte. Die 1. Etappe von Groningen in die westfälische Stadt gewann im Sprint der Italiener Mario Cipollini.

„Na klar wäre das was anderes gewesen, wenn Ulle als Spitzenfahrer dabei gewesen wäre. Aber wenn ich sagen würde, ich fahre schlecht, weil Jan Ullrich ausfällt und ich deshalb keine Motivation habe, dann wäre das eine verdammt schlechte Ausrede“, meint Kessler. Einen Groll gegen den Chef, der sich erst im Freiburger Nachtleben gehen ließ und dann seine Saison beendete, gebe es im Team nicht: „Das ist vollkommener Schwachsinn, wenn jemand behauptet, wir wären sauer auf Ullrich. Wir wissen, was er für den Radsport getan hat und dass es uns alle ohne ihn vielleicht gar nicht gäbe.“

So sieht das Giro-Aufgebot des Team Telekom, das weitestgehend aus Namenlosen besteht, die Abwesenheit eines echten Leaders eher als Chance: „Wir sind eine ganz junge Mannschaft“, sagt Kessler, „wir haben jetzt die Chance zu zeigen, was wir können.“ Vor allem um Tagessiege wollen sie sich bemühen – und dafür kommt neben Kessler, einem Spezialisten für das Hochgebirge, vor allem der Cottbusser Sprinter Danilo Hondo in Frage.

Wie Kessler gelang Hondo beim Giro des letzten Jahres der Durchbruch, als er zwei Sprintetappen gewann und dabei sogar sein großes Vorbild Mario Cipollini besiegte. Hondo, der ansonsten Erik Zabel bei dessen Sprints sekundiert, kopiert gerne den extrovertierten Auftritt des Sprinter-Königs aus der Toskana, liebt wie Cipollini extravagante Mode und hat sich nicht nur auf den Giro spezialisiert, weil Zabel an der Italien-Rundfahrt kein Interesse hat. Das Italienische, so der Cottbusser, sei ihm doch „sehr nahe“.

Möglicherweise aber werden die Bonner Fernmelder ihre Strategie, sich auf Tageserfolge zu konzentrieren, noch überdenken müssen. „Ein Etappensieg ist wichtiger als ein 15. Platz in der Gesamtwertung“, meint Rudy Pevenage zwar. Bei einem Platz unter den ersten zehn, so der Sportliche Leiter, käme er mit seinen Prioritäten jedoch ins Grübeln.

Kessler wurde im vergangenen Jahr 23., und das, obwohl er Jan Ullrich über die Berge schleppen musste und nicht auf eigene Rechnung fahren durfte. Nun trauen ihm nicht wenige zu, mit seiner freien Rolle in diesem Jahr ganz weit nach vorne fahren zu können. Zumal er seit dem letzten Giro sein großes Talent bestätigt hat: Im Herbst wurde er bei der Lombardei-Rundfahrt Zehnter, in diesem Frühjahr beim Klassiker Lüttich–Bastogne–Lüttich Sechster. Beide Male hatte ihn niemand auf der Rechnung, nicht einmal die eigene Mannschaftsleitung.

Auf seine Möglichkeiten angesprochen, bevorzugt Kessler ohnehin die Tiefstapelei: „Ich bin ein ganz kleines Licht im Radsport“, sagt er beispielsweise. Und: „Das meiste, was ich erreichen kann, ist einmal ein guter Helfer zu werden.“ Doch bei diesem Giro ist keiner da, dem zu helfen wäre.