Zwischen Schutt und Asche

Nach dem 2:4 im Pokalendspiel gegen Schalke 04 blickt man in Leverkusen mit Sorge voraus auf das Champions-League-Finale gegen Real, wo den Schönspielern eine titelmäßige Tabula rasa droht

aus Berlin MATTI LIESKE

Sie wirkten wie eine in Stein gehauene Trauergesellschaft. Reglos, mit erstarrter Finstermiene, die Mundwinkel kollektiv nach unten gezogen, als wollten sie eine olympische Goldmedaille im Synchronschmollen gewinnen, standen die Führungspersönlichkeiten der Fußballabteilung von Bayer Leverkusen auf dem Rasen des Olympiastadions und sahen zu, wie Schalke 04 seinen Pokalgewinn feierte.

Besonders ungnädig blickten Manager Reiner Calmund und Trainer Klaus Toppmöller, die langsam zu Routiniers in Sachen Trauerarbeit reifen und dies unter Beweis stellten, sobald sie angesprochen wurden. Dann wich die Anmutung von Götterdämmerung wie auf Knopfdruck aus ihren Gesichtszügen und es sprudelten die Erklärungen, Durchhalteparolen, Zuversichtsbeteuerungen so unaufhaltsam wie Münzen aus einem Spielautomaten, bei dem gerade der Jackpot geknackt wurde. Bloß, dass der Jackpot auf die Leverkusener noch wartet, nachdem sie zuvor zweimal vergessen haben, ihren Lottoschein mit sechs Richtigen abzugeben.

„Leider Gottes“, so Toppmöller nach dem 2:4 von Berlin, „haben wir die Meisterschaft verspielt und den Pokal gegen Schalke verloren.“ Normalerweise Grund genug, sich der Verzweiflung hinzugeben, doch das ist den Leverkusenern nicht gestattet, da ihnen ja am Mittwoch noch der Kampf um den höchsten Preis bevorsteht, den der Vereinsfußball zu vergeben hat: das Finale der Champions League in Glasgow gegen Real Madrid.

Aber wie kann sich eine Mannschaft noch einmal erheben, die binnen kurzer Zeit zwei solche Nackenschläge hinnehmen musste, war die Frage, die am Samstagabend beharrlich durch das Olympiastadion geisterte. Eine Mannschaft zudem, die sich in der zweiten Halbzeit des Pokalfinales fast widerstandslos einem Gegner ergab, den sie 44 Minuten lang nach Belieben beherrscht und mit dem 1:0 in der 27. Minute fast schon erledigt hatte. Umso erstaunlicher der Absturz. „Bis zum 1:4 waren wir gar nicht mehr auf dem Platz“, klagte Toppmöller und identifizierte, wie die meisten Beteiligten beider Seiten, Jörg Böhmes unverhofften Ausleich per Freistoß kurz vor der Pause als Schlüsselszene des Spiels.

Schwer zu glauben, dass ausgerechnet die Mannschaft, die Rückstände, selbst gegen große Teams wie FC Barcelona, FC Liverpool oder Manchester United, während der gesamten Saison lockerer weggesteckt hatte als jede andere, nur wegen eines läppischen Gegentores dermaßen einknickt. Fakt war jedoch, dass es nach der Pause weniger die – allerdings deutliche – Steigerung Schalkes war, die das Spiel kippen ließ, sondern das eklatante Nachlassen des Bayer-Teams, welches nach dem 1:2 vollends in Resignation verfiel. „Die Aggressivität war nicht mehr gegeben, es fehlte die Laufbereitschaft“, analysierte Toppmöller, zudem schwand die Konzentration. „Dumme Fehler in der Vorwärtsbewegung ohne Absicherung nach hinten“, beklagte der Trainer, „das darf einer solchen Mannschaft nicht passieren.“ Zumal die schlechteste Figur in dieser Phase ausgerechnet Lucio abgab, der einzige Bundesliga-Brasilianer, der mit zur WM darf. Sein missratenes Tackling gegen Agali führte zum 1:2, sein Ballverlust im Mittelfeld leitete das 1:3 ein, an dem wiederum der plötzlich erstarkte Agali mit perfektem Pass auf Möller beteiligt war.

Woran es lag, darauf mochte sich Toppmöller, der wie sein Schalker Kollege Huub Stevens einen Großteil des Matches nach Verweis durch das übereifrige Schiedsrichtergespann von der Tribüne aus betrachten musste, noch nicht festlegen. „Ob Müdigkeit oder fehlendes Selbstvertrauen, das müssen wir rausfinden.“ Allerdings sieht er Parallelen zu der Phase vor der Winterpause, als sein Team ebenfalls schwächelte und „dumme Punkte“ verlor. Sowohl körperlich als auch geistig fehle die Frische, Grund sei die Vielzahl an Spielen mit einem zu kleinen Kader von Spitzenleuten, der so etwas wie Rotation von vornherein verbot. „Die Belastung war unmenschlich“, verriet Toppmöller, wies aber einen gängigen Vorwurf geradezu entrüstet zurück: „Dass wir eine Winnermentalität besitzen, haben wir oft genug bewiesen“. Bloß gewonnen haben sie bisher nichts.

„Wir haben eine tolle Saison gespielt“, hält der Coach dagegen, niemand habe schließlich vorher Leverkusen „im Pokalfinale, unter den ersten fünf der Bundesliga oder gar im Endspiel der Champions League“ gesehen. Und gegen Schalke könne jeder verlieren: „Das ist kein Team wie Kuwait.“ Eine Einschätzung, die in gewisser Weise auch auf Real Madrid zutrifft, das derzeit sogar noch schlechter dasteht als die Leverkusener. Im spanischen Pokal ebenfalls Finalverlierer, landeten die Madrilenen zu ihrem Jahrhundertjubiläum in der Liga sogar nur auf Rang drei, was bedeutet, dass sie in die Qualifikation für die Champions League müssen, wenn sie das Endspiel gegen Bayer verlieren.

„Wir fahren nicht nach Glasgow und haben vor, Real Madrid in Schutt und Asche zu legen“, warnt Klaus Toppmöller vor übertriebenen Erwartungen und genießt es sichtlich, endlich mal irgendwo Außenseiter zu sein. Das Rezept für den Mittwoch hat er auch schon parat: Nicht etwa jener wunderschöne Fußball, für den die Leverkusener zuletzt mehr mitfühlende Komplimente bekamen als sie ertragen können, vor allem aus Dortmund und Schalke, sondern Tugenden, die irgendwie vertraut klingen hierzulande. „Jetzt sind ganze Kerle gefordert, die ihren Mann stehen“, fordert der Coach. Schluss also mit dem soften, geradezu ökologisch anmutenden Fußballbiotop in Callis und Toppis Märchengarten, her mit der guten alten Rasenfressermentalität klassischer Prägung. Man könnte es auch Winnermentalität nennen.

Schalke 04: Reck - Hajto (46. Oude Kamphuis), Waldoch, van Kerckhoven - van Hoogdalem, Nemec - Asamoah (81. Vermant), Möller (75. Wilmots), Böhme - Sand, Agali Bayer Leverkusen: Butt - Zivkovic, Lucio, Placente - Schneider, Ramelow, Ballack, Zé Roberto - Bastürk - Neuville (67. Brdaric), Berbatow (77. Kirsten) Zuschauer: 70.000; Tore: 0:1 Berbatow (27.), 1:1 Böhme (45.), 2:1 Agali (68.), 3:1 Möller (71.), 4:1 Sand (85.), 4:2 Kirsten (89.) Rote Karte: Agali wegen Unsportlichkeit (90.)