Paper on the road

Der Künstler Wolfgang Tiemann wagt den Kunst-Dialog mit einer der vergessensten Regionen – Usbekistan

Kunst, Dialog und Papier, jedes ist für sich eine eher luftige Angelegenheit. Packt ein Künstler damit seine Koffer, kann die Sache aber gewichtig werden. Wolfgang Tiemann hat seine Sicht eines Kunstdialogs auf Papier gebracht und ist damit nach Usbekistan gereist. Im Gepäck 17 großformatige Aquatintaradierungen. Mit ihnen will Tiemann an die Begegnung der chinesischen und der arabischen Kultur entlang der Seidenstraße erinnern. Und damit an den Beginn des Papierzeitalters in Europa. Denn es war im Jahr 751 n. Chr., als nach einer Schlacht chinesische Kriegsgefangene mit ihrem Handwerk unfreiwillig zu Begründern des Papierzeitalters in der arabischen und der europäischen Welt wurden. Die in Samarkand geschlagenen Chinesen zeigten den arabischen Eroberern, wie man aus Pflanzenfasern ein dünnes, aber sehr beständiges Material gewinnt.

Dieses Ereignis vor 1.251 Jahren in Samarkand würdigt Tiemann mit seiner Kunstaktion „Paperroads – Migrating Media“. Im staatlichen usbekischen Museum Samarkands, nur wenige Schritte vom Registan, dem „schönsten Platz Zentralasiens“, präsentierte Wolfgang Tiemann bereits im März seine Drucke. Nun sind die Arbeiten in Hildesheim zu sehen. Auf den fünf Meter langen Papierbahnen sind Strukturen aufgedruckt, die meist kräftig, aber auch düster wirken, so eine kraftvolle hünenhafte Rabengestalt, die einem Penck entstammen könnte. Dazwischen ägyptische Tempelwächter, Fußabdrücke, ein Minotaurus, chinesische und arabische Schriftzeichen, phönizische Keilschrift. Ganz bewusst hat sich Tiemann für Tiefdrucke entschieden, um den Unterschied zwischen dem älteren, unbedruckbaren Material, Pergament, und dem bedruckbaren Papier deutlich zu machen. Angefertigt hat Tiemann, der notorische Overallträger, die fünf Meter langen Radierungen unter anderem mit Hilfe einer Dampfwalze. Erst durch seine Bedruckbarkeit wurde das Papier zur Grundlage der modernen Kommunikation und der Verbreitung des Wissens.

Vier Jahre lang hat sich der gelernte Grafiker auf die Reise vorbereitet, die ihn zum längst vergessenen Nadelöhr der Kultur, an die Seidenstraße, führen sollte. Dass das Projekt mit den Terroranschlägen vom 11. September eine ganz andere Aktualität erhalten hat, konnte der Künstler damals natürlich nicht ahnen, als er sich in seinem Atelier bei Hannover und später in einer leer stehenden Fabrikhalle in Alfeld an die Produktion machte. Vier Jahre bemühten sich Tiemann und engagierte Freunde um das Okay der usbekischen Behörden. Ohne Rückendeckung aus dem niedersächsischen Landtag hätten sich manche Türen der postsowjetischen Bürokraten in Taschkent wohl auch nicht so schnell geöffnet. Denn Tiemann hatte sich auch eine Kunstaktion auf dem Registan unter freiem Himmel mit Beteiligung usbekischer Künstler gewünscht. Tiemann selbst durfte auf dem mittelalterlichen Platz, umrahmt von drei prachtvoll-majestätischen Medresen, schließlich auch seine mitgebrachte 25-Meter-Papierbahn bemalen. Doch die usbekische Miliz verhinderte jegliche spontane Beteiligung der umstehenden Neugierigen.

Die konnten sich mit den abstrakten Darstellungen nicht sofort anfreunden, waren aber davon angetan, dass ein ausländischer Künstler nach Samarkand gekommen war, um an das wichtige historische Datum zu erinnern. In der einst so weltberühmten Stadt, durch deren Karawansereien jahrhundertelang Händler, Abenteurer und Eroberer aus aller Welt zogen, wird heute versucht, die Kunst der Papierherstellung wiederzubeleben. In Räumen nahe dem Museum experimentiert ein Handwerker mit der alten Technik, doch es scheint nicht recht voranzugehen. Seine eigens angefertigten Maschinen sind mit einer dicken Staubschicht überzogen und stehen schon lange still.

Für Tiemann ist die über insgesamt 600 Jahre voranschreitende Ausbreitung des Papiers, von Samarkand bis zum Bau der ersten Papiermühle in Deutschland, ein einzigartiges Beispiel „für die grenzüberwindende Kraft technisch-kultureller Innovation“. So will das Projekt, das Tiemanns Werke außer in Samarkand und Hildesheim auch in Cordoba und Schanghai zeigen wird, mit künstlerischen Mitteln die Aufmerksamkeit auf „einen bis in das Medienzeitalter hineinreichenden zentralen Prozess technischer Diffusion lenken“, der die drei großen Kulturen China, Arabien und Europa miteinander verbindet. Oder anders ausgedrückt, Kunst als Reminiszenz an die frühe Globalisierung. Zu Recht weist „Paperroads“ darauf hin, dass durch die Verlagerung der politisch-wirtschaftlichen Aufmerksamkeit in den transatlantischen Raum in Europa das Bewusstsein früherer historischer Verbindungen mit Zentralasien weitgehend verschüttet ist. Usbekistan und seine Nachbarstaaten zählen heute zu den von der Weltöffentlichkeit kulturell „vergessensten Regionen“ dieser Erde. Dabei sind nach seiner Auffassung gerade die scheinbar „unpolitischen“ Vorgänge wie die Verbreitung solch allgemein nützlicher Techniken wie die Papierherstellung geeignet, „die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremden Kulturen zu fördern“.

ADRIENNE WOLTERSDORF

Bis 11. August, Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, Doku 39 €