Wagners Schauprozess

Lehrer, die wir laufen ließen (2). Heute: der westfälische Mathematiklehrer

Es dauerte keine zehn Minuten, dann hatte er mich aufgelöst vor der Klasse stehen

Wagner konnte man ruhig laufen lassen. Man wusste, dass sich der Mathematik- und Erdkundelehrer über kurz oder lang von selbst erledigen würde. Die effektivste Form der Rache war, ihn jeden Tag wieder vor seine Klassen treten zu lassen. Das Leben war ganz offensichtlich nicht gut zu Wagner gewesen. Es hatte ihn groß werden lassen. Zu groß für sein Gewicht. 60 Kilogramm gestreckt auf 1,95 Meter, unvorteilhaft kaschiert von einem dunklen, schlecht sitzenden Anzug. Unten kuckten Hochwasserstelzen aus der Hose, oben ein grotesk langes Nussknackergesicht aus dem grauweißen Nyltestkragen. In Abständen von 20 Minuten wurde Wagner von schrecklichen Hustenanfällen geschüttelt. Irgendetwas Schlimmes wollte raus aus ihm. Was es war, wussten wir nicht. Wir sahen nur, was er offensichtlich unter Schmerzen ins Waschbecken spuckte. Das war rosa und speichelig.

Unser Mitleid hielt sich in Grenzen. Sicher, eine Horde von 40 pubertierenden Realschülern auf dem beakneten Weg zur mittleren Reife hat anderes zu tun, als sich in Barmherzigkeit zu üben. Hätte Wagner aber auch nur hin und wieder aufscheinen lassen, dass ihn das Schicksal trotz aller Schläge für den Beruf des Pädagogen vorgesehen hatte, wir hätten wohl mit etwas Rücksicht vor ihm gesessen.

Stattdessen verachteten wir ihn. Wagner hasste uns. Er war krank, und wir waren die, die ihn krank gemacht hatten. Wir und all die anderen zahllosen Schüler, die er vor uns in Naturwissenschaften zugerichtet hatte. Als wir ihn bekamen, war er schon fertig mit diesem Leben. Er konnte im wahrsten Sinne des Worte nur noch vor uns Auskotzen. In den Pausen dazwischen übte er Rache.

In der achten Klasse wurde ich als Opfer auserkoren. Er hatte mich in diesem Schuljahr in den Fächern Erdkunde und Mathematik mit „mangelhaft“ einbetoniert. Versetzung stark gefährdet, aber mit Nachprüfung noch möglich. Es sei denn, man erhöhte eine dieser Noten rechtzeitig auf ein Ungenügend. Also teilte mir Wagner ohne Vorwarnung kurz vor Schuljahresende vor versammelter Klasse mit, dass ich in Mathematik auf der Kippe stünde und jetzt – jetzt gleich! – mal beweisen solle, dass ich keine Sechs, sondern nur ein Fünf verdient habe.

„Steh mal auf, Eckenga – Prüfung!“ Es dauerte keine zehn Minuten, dann hatte er mich aufgelöst vor der Klasse stehen, unfähig, auch nur noch den Inhalt eines gleichschenkligen Dreiecks auszurechnen. Nichts wusste ich mehr, gar nichts, was ein Mangelhaft gerechtfertigt hätte. „Na Eckenga, jetzt siehst du wohl selbst ein, dass ich sitzen lassen muss, oder?“ Ich sah gar nichts mehr. Ich heulte Rotz und Wasser, meine Klassenkameraden sahen betreten zur Seite, als ich ihn zitternd anflehte, mir trotzdem eine Fünf zu geben.

Wagner schaute kalt über die schweigende Versammlung hinweg, klappte sein Zensurenbuch zu, beendete den Schauprozess mit einem kalten „Nein, das geht nicht, das haben wir ja alle gerade erlebt“, und verließ schnell den Raum.

Ich ließ ihn gehen. Wir ließen ihn laufen. Bestimmt spuckte er jetzt blutig ins Waschbecken des Lehrerzimmers. Lange würde er auch das nicht mehr können.

FRITZ ECKENGA