Das Antlitz des Göttlichen

Der italienische Fußball steckt in einer Krise, doch die Fans in Neapel nehmen das ungerührt zur Kenntnis, glauben drei Spieltage vor Saisonende noch an den Aufstieg des SSC in die Serie A und schwelgen in Erinnerungen an Maradona

aus Neapel MARKUS VÖLKER

Von der Krise des italienischen Fußballs ist im Gässchen Vico Giardinetto in Neapels Altstadt nichts zu spüren. Ein paar Kinder feiern ausgelassen den Sieg des SSC Neapel über Bari. Auf einem alten Waschbrett haben sie eine Plastikwanne mit Silberpapier ausgeschlagen und ein Marienbild der Madonna di Positano hineingeklebt. Den improvisierten Schrein tragen sie auf ihren Schultern. Die Prozession zieht lärmend weiter, Schlachtengesänge ihrer Himmelblauen skandierend. Eine Gasse weiter peitscht ein Motorradcorso mit hellblauen Fahnen an den Passanten vorbei. Die Fahrer sind keine zehn Jahre alt, fahren auf ihren Minibikes aber schon forscher als die Halbstarken.

Neapel glaubt wieder. Drei Spieltage vor Saisonende steht die Società Sportiva Calcio Napoli auf Platz fünf der Serie B, der zweiten Liga Italiens. Die ersten vier steigen auf. Eine Siegesserie brachte Neapel wieder an die Spitze heran, bevor zuletzt zwei Unentschieden für einen kleinen Dämpfer sorgten. „Wir kultivieren die Hoffnung“, sagt dennoch Trainer Luigi De Canio (45) und bringt die Stimmung einer ganzen Metropole auf den Punkt.

Die aufkeimende Hoffnung ist immerhin etwas, denn bis vor kurzem schien der Verein dem Untergang entgegenzusteuern. Der Meister der Jahre 1987 und 1990 war so gut wie am Ende. Ein Mann aus dem Norden schien für das Übel verantwortlich, Präsident Giorgio Corbelli aus Brescia. Vor ein paar Wochen wurde er inhaftiert. Mit seinen beiden Verkaufskanälen Telemarket und Telemarket II soll der Unternehmer gefälschte Kunstwerke des Malers Michele Cascella angeboten und die Kunden um mehr als 17 Millionen Euro geprellt haben. Zudem schraubte Corbelli an den Bilanzen des SSC. Die Vorwürfe: illegale Kapitalerhöhung und Bilanzfälschung. Aus der Zelle verkündete Corbelli entrüstet, er werde seine Anteile von 80 Prozent am Verein sofort abstoßen und nie mehr einen Fuß in diese „merkwürdige Stadt“ setzen.

Corbelli, inzwischen wieder frei, hat es sich anders überlegt. Anhänger, die im Stadion San Paolo Spruchbänder („Corbelli – zerstöre nicht, was du aufgebaut hast“) ausrollten, sollen ihn erst zu Tränen gerührt und dann zum Weitermachen bewegt haben. Es gibt viel zu tun für den untersetzten Schnauzbartträger. Die Schulden des Klubs sind hoch, wohl mehr als 20 Millionen Euro. Seit Dezember haben die Spieler kein Gehalt mehr bekommen. Der Kursverfall der Napoli-Aktie war drastisch. Corbelli: „Ich bin ruiniert.“ Ein Insolvenzverwalter nahm sich der Probleme an. Zeitweise belegten die frustrierten Fans den Klub mit einem Boykott und erschienen in der morschen 80.000-Zuschauer-Arena nur als mickriges Häuflein. Neapel steht indes mit den Schwierigkeiten nicht alleine da.

Düster verkündete die Gazzetta dello Sport das Ende einer Ära. „Das goldene Zeitalter des italienischen Fußballs ist vorbei“, schrieb die Sportzeitung und schob mit schwerem Pathos nach: „Die Titanic des Fußballs steuert auf den Eisberg zu, völlig töricht und schamlos.“ In der vergangenen Saison machte die Liga einen Verlust von 710 Millionen Euro. Kopfschütteln erzeugte zudem das vorzeitige Ausscheiden der Teams aus der Champions League – ein Indiz der sportlichen Misere.

Auch um die Fernsehlandschaft ist es nicht gut bestellt. Den Pay-TV-Markt teilen sich zwei Anbieter, Telepiú und Stream. Wer den SSC sehen will, zahlt bei Stream 40 Euro, wer obendrein Lust auf die Mannschaften aus Mailand und Turin hat, legt für Telepiú noch mal den gleichen Betrag hin. Die Sender machen eine Viertelmilliarde Euro Verlust im Jahr. Eine Kooperation beider Anbieter bahnt sich notgedrungen an.

Pazienza, Geduld, so antwortet der italienische Süden auf solch drängende Fragen. Die Zukunft wird es schon irgendwie richten. Dem Kommenden sieht man in Neapel gelassen entgegen und unternimmt traditionell einen Umweg über das Gestern. Dort trifft man ihn, „El Pelusa“, den Lockenkopf. Diego Maradona ist in der Millionenstadt so präsent wie kein anderer Fußballer. Der Besitzer des Café Nilo in der Via dei Tribunali huldigt Diego mit einem Altar, den er mit Plastikblumen und dem Antlitz des „Göttlichen“ herrichtet. Vielerorts sind, mehr als zehn Jahre nach dem letzten Auftritt Maradonas im Napoli-Dress, immer noch azurblaue Trikots mit der Nummer 10 zu haben. Für 6 Euro wird ein Poster mit den knalligsten Maradona-Schlagzeilen („Die Tränen von Maradona sind die Freude dieser Stadt“) angeboten. Und beim Aufstieg wird der Linksfuß wohl als Krippenfigur aus Gips wiederauferstehen und den Absatz ankurbeln.

Verträumt singt ein Mädchen vom einstigen Helden der Stadt: „Sto cercando Maradona …“ Ich suche Maradona. Den echten findet es nicht mehr. Aber Diego Maradona junior schon, ein uneheliches Kind der großen Nummer 10. „Dieguito“ ist 15, hat bis 2004 einen Vertrag beim SSC und wurde als jüngster Spieler in Italiens U-17-Auswahl berufen. Die Hoffnung lebt in Neapel.