jenny zylka über Sex & Lügen Onanieren macht Gicht

Achtung, Ersatzverkehr! oder Warum das Nachschminken in der Öffentlichkeit wohl überlegt sein will

Neulich hat mir eine meiner ominösen Freundinnen von ihrem ersten und einzigen multiplen Orgasmus erzählt. Gelb vor Neid wollte ich Details oder zumindest ein paar Angaben zu ihrem Freund. Rot vor Scham behauptete sie, ihr Freund habe gar nichts damit zu tun, sie habe das interessante Erlebnis vielmehr einem dieser Plastikröhrchen mit Vitamintabletten zu verdanken gehabt. Welche Sorte, wollte ich wissen. Magnesium, sagte sie nach kurzem Überlegen. Ob das eine Rolle spielt?

Wenn ich nicht solche Angst vor Rückenmarksschwund hätte, dann stände ich jetzt schon an der Schlecker-Kasse. Andererseits lauert diese Gefahr anscheinend eh mehr bei den Männern, weil die, so hört man jedenfalls, mit der Kunst viel verschwenderischer umgehen als Frauen. Frauen dagegen nehmen laut einer psychoanalytischen Auslegung des Öfteren Handlungen vor, die man als „Selbstbefriedigungssurrogate“ bezeichnet. Dazu gehören angeblich Nägelkauen, Haarebürsten, das habituelle Herumzupfen an Lippen, Ohrläppchen und Augenbrauen und vor allem „die zwangsneurotische Manipulation von Lippenstiften und Puderdosen“. Die scheinbar asexuelle Handlung des Nachschminkens, so behaupten frech jene Psychoheinis und Sex-Shrinks, sei in Wirklichkeit ein Ersatz für Masturbation.

Als ich das gelesen hatte, entfernte ich erst einmal prophylaktisch sämtliche Lippenstifte und Kämme aus meinen Handtaschen (eigentlich benutze ich gar keinen Lippenstift, aber in den 80ern hat eine Freundinnenmutter einmal sieben dieser zwei Zentimeter hohen Avon-Probelippenstifte bei mir vergessen, die seitdem tief unten auf dem Handtaschengrund recht nett herumkullern und mir irgendwie das Gefühl von Weltmännischheit vermitteln). Man weiß schließlich nie, ob man nicht mal einem Psychoanalytiker gegenübersitzt, der dann herablassend und ein wenig dreckig lächelt, wenn man sich das kleine Farbpröbchen auf die Lippen schmiert: Tz tz tz, öffentliche Selbstbefriedigung! Und dann auch noch mit einem Mini-Godemiché! Was man daraus alles ableiten kann: Penisneid, Penisangst, Einsamkeit, Deviation, uiuiui. Lieber steh ich trotzig mit wirrem Haar und blassem Mund herum, als zu einem Kapitel in des Psychoheinis nächstem Kongressvortrag zu werden.

Noch mal kurz zurück zu den Gefahren, vor denen Generationen von Menschen schlotterten, wenn sie schuldbewusst an sich herumschraubten: Neben Rückenmarksschwund sind fortschreitende Blind- und Taubheit bekanntlich die direkten Folgen solcherlei Ersatzverkehrs. Interessanterweise sind diese beiden Sinneserkrankungen allerdings die, die im Alter so gut wie jeden treffen. Fast alle Greise und Greisinnen hören schwer und sehen schlecht. Man fragt sich also, warum sich selbst entdeckendeTeenager nicht langsam mal mit ein paar neuen, aktuellen Masturbationsfolgen-Gruseloptionen ins Bockshorn gejagt werden. Wer seinem Kind den Spaß wirklich gründlich verderben möchte, der braucht doch bloß zu behaupten, dass man durch Selbstbefriedigung außerstande gesetzt wird, eine SMS zu schreiben. Also: „Onanieren macht Gicht!“ Oder, noch besser und für Gameboy-Freaks geeignet, „Onanieren lähmt Daumen!“. Wenn das rumgeht, hat der Gameboy-Verlierer nichts mehr zu lachen. Seine gehässige Clique umso mehr.

Der eigentliche Anlass für die mannigfaltigen Verleumdungen der nach dem Anderen-auf-die-Mütze-Hauen ältesten und weit verbreitetsten Technik der Welt ist jedenfalls sehr traurig. Früher lag er in der Sexual- und Lustfeindlichkeit der nichtsäkularisierten und extrem verklemmten Gesellschaft begründet, heute schon lange nicht mehr. Wenn jemand mit sich selber spielt, so mutmaßt die heutige Gesellschaft stattdessen gemein, dann liegt das daran, dass er oder sie kein Gegenüber gefunden hat, das freiwillig mitspielt. Und das ist, so wird weiter gefolgert, weil er oder sie langweilig, doof und hässlich ist. Darum gibt es das Schimpfwort „Wichser“, darum machen sich Kinder und viele Erwachsene über das Thema lustig, und darum erzählen meine ominösen Freundinnen nur sehr selten Geschichten wie die mit dem Magnesiumtabletten-Röllchen. Dabei würde ich sie so gerne weitererzählen.

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