Zwei Metaller, eine Faust

„Ich halte Arbeitskampf für falsch. Das ist Gewalt. Aber manchmal muss es sein.“

aus Berlin STEFAN KUZMANY

Der Fotograf bittet zum Gruppenbild. Vater und Sohn vor dem Gartenschuppen. Kampfeslustig hebt Dieter Thon die linke Faust zum Arbeitergruß. Fast automatisch geht das, so wie immer in den beinahe 50 Jahren, die er zur IG Metall gehört. Ralf Thon will nicht. Obwohl er auch in der Gewerkschaft ist: „Das ist ein abgedroschenes Ding.“ Er habe noch nie die Faust hochgenommen, auch nicht, als er noch Vorsitzender der Jugendvertretung der IG Metall war.

Es ist ein sonniger Samstagvormittag. Noch zwei Tage bis zum Metallerstreik, dem ersten seit mehr als 70 Jahren in Berlin und Brandenburg. Nur Warnstreiks hat es gegeben. Da kann man nicht behaupten, dass die Metaller der Region streikerfahren sind. Und streitbar auch nicht mehr, jedenfalls im Vergleich zu früher.

Ja, damals. Dieter Thon gerät in Fahrt. Damals ging es noch um was. Damals gab es noch richtige Redner. Die haben mit der Faust auf den Tisch gehauen. Er zählt sie an seinen Fingern auf, die großen Führer der IG Metall in Berlin, aber die Namen sagen doch niemandem mehr etwas. Die sind längst vergessen. Die Namen sind ja auch egal. „Die hatten gar keinen Nachnamen, die hießen mit Nachnamen IG Metall“, sagt Dieter Thon in seinem energischen Berliner Dialekt und muss ein wenig husten.

Dieter Thon ist 65 Jahre alt, vor fünf Jahren hat er aufgehört zu arbeiten, er hat das Rauchen aufgegeben, aber die Gewerkschaft, die Gewerkschaft wird er niemals aufgeben. Den ganzen Weg von der 40- zur 35-Stunden-Woche ist er mitgegangen. Hat als Lehrling noch Schichten von Sonnabend auf Sonntag geschoben. Und hat noch nie gestreikt. Na gut, die Warnstreiks. Aber einen richtigen Streik hat er nie mitgemacht.

Im roten T-Shirt sitzt er auf seiner Terasse, die rote Metallermütze braucht er jetzt nicht mehr, denn sein Sohn Ralf hat die Markise ausgefahren. Über Thon prangt ein Straßenschild, ein Geschenk der Kollegen: „Dieter-Thon-Platz“. Thon wohnt mit seiner Frau zur Miete in einem kleinen Bungalow am Karwitzer Pfad im Berliner Bezirk Reinickendorf. Von der Borsig-Siedlung dauert es mit Bus und U-Bahn eine gute halbe Stunde bis zum Werkstor der Borsig-Werke.

August Borsig, der Firmengründer, baute hier Dampfmaschinen, jetzt werden Turbinen hergestellt. Dieter Thon war hier Bohrwerkdreher. Wie schon sein Vater. Damals! „Am 13. August, da war ich sechzehn, da sind wir am Werkstor gestanden und haben den Kollegen, die zum Alex gezogen sind, unsere Stullen geschenkt.“ – „Das war nicht der 13. August“, fällt ihm sein Sohn Ralf ins Wort: „Da wurde die Mauer gebaut. Das war der 17. Juni 1953.“

Normalerweise ist es umgekehrt. Normalerweise unterbricht der Vater und der Sohn hört zu. Die Mutter ist überhaupt nicht wahrzunehmen, hat zwar die Tür aufgemacht und den Gast in den Garten geschickt, aber jetzt ist sie in der Küche beschäftigt, während die Männer auf der Terasse über die Arbeit reden. Auch der 42-jährige Ralf hat Bohrwerkdreher gelernt. Auch er ist bei Borsig, genauso wie seine Geschwister Harald und Cornelia. Und wenn alles läuft, wie es sich Ralf Thon vorstellt, wird es auch eine vierte Generation Thons bei Borsig geben. Ralfs Sohn Jordan, zehn Jahre alt, ist schon glühender Anhänger des Arbeitervereins Schalke 04 – vielleicht aber auch nur wegen Olaf Thon, der zwar nicht verwandt ist, aber was zählt das schon? Ein Thon-Trikot hat Jordan jedenfalls.

Auch für Ralf Thon ist es der erste Streik. Der freundliche Mann mit dem roten Schnurrbart ist sich unsicher, was der Arbeitskampf für ihn bedeutet. Denn Ralf Thon hat die Fronten gewechselt, ist aus der Werkshalle ins Büro umgezogen, hat sich nebenher zum Maschinenbautechniker fortgebildet. Jetzt ist er Fertigungsleiter für den Standort Berlin, sein Chef sitzt in Oberhausen. Auf der Visitenkarte steht „Manager Production“ unter einem großen Firmenlogo „MAN Turbo“. „Borsig“ steht da nur ganz klein am Rand. Denn Borsig gibt es eigentlich gar nicht mehr, ist aufgekauft und zerschlagen worden. So kommt es, dass Cornelia jetzt Ausbildungsleiterin bei Babcock-Borsig ist, Ralf und Harald jedoch für die MAN arbeiten. Und so kommt es auch, dass sich Ralf nicht nur unsicher ist, wie die Kollegen von der Gewerkschaft auf ihn reagieren werden, wenn er in sein Büro vordringen will. Er ist sich auch unsicher, ob sein MAN-Betrieb in den kommenden Tagen überhaupt bestreikt wird. Im Radio hieß es nur „ Streik bei Borsig“.

Derweil vermisst sein Vater die Ideologie, den Klassenkampf. „Das findet doch heute überhaupt nicht mehr statt.“ „Fremdbestimmt“, sagt sein Sohn, sei die Gewerkschaftsarbeit geworden. Alle verlassen sich auf die Zentrale in Frankfurt. „Wenn früher was nicht gestimmt hat, dann habt ihr Betriebsräte doch erst mal im Betrieb Rabbatz gemacht“, sagt er, und der Vater stimmt euphorisch zu: „Genau!“ 25 Jahre lang war Dieter Thon Betriebsrat, die letzten neun als stellvertretender Vorsitzender. „Nur mit den höchsten Idioten“ habe er da zusammenarbeiten müssen – damit meint er die Manager. Nur in den letzten Jahren, kurz vor der Zerschlagung, hatte er einen Chef, der sich seinen Respekt verdient hat. Gemeinsam mit Ralf Thon, der da schon aufgestiegen war, hat er den Auftrag bekommen, im Unternehmen die Gruppenarbeit einzuführen. Er vom Betriebsrat, der Sohn im Auftrag der Geschäftsleitung.

Gemeinsam haben sie 1993 die Strukturen umgebaut. Früher gab es vielfältige Hierarchiestufen in der Werkshalle, Hilfskräfte, Lehrlinge, Gesellen, Meister, der Chef und der Chef über dem Chef. Und nach dem Umbau: nur Gruppen, die sich ihre Gruppensprecher selbst wählten. Lean Management. Die Arbeitszufriedenheit stieg. Aber das ist heute auch schon „damals“. Denn plötzlich fehlten Verantwortliche, gab es kein Organigramm mehr, kein Adressbuch, auf dem man die Telefonnummer des Zuständigen nachlesen konnte. Also haben sie 1999 die Hierarchien wieder eingeführt. „Mit allen Vorzügen der Gruppenarbeit“, betont Ralf Thon. Seinen Chef selbst wählen darf sich heute allerdings niemand mehr.

Ralf Thon bemüht sich, die Balance zu wahren. Im Herzen, sagt er, ist er ein Linker. Aber er muss aufpassen, was er sagt. Denn auch, wenn er mit vielen Kollegen befreundet ist und mit den meisten per Du – die Worte des Betriebsleiters werden auf die Goldwaage gelegt. Auf die veränderten Arbeitsbedingungen in der Branche angesprochen, macht er sogleich ein wenig Werbung: „Letztes Jahr haben wir von der Berufsgenossenschaft eine hervorragende Bewertung der Arbeitssicherheit bekommen.“ Nur elf leichte Unfälle gab es letztes Jahr bei ihm, und das bei 189 Mitarbeitern in der Fertigung. Abgeschürfte Hände, Späne in den Augen, nichts Ernstes. „Alles Fahrlässigkeit“, sagt Thon junior, aber da fällt ihm der Senior ins Wort: „Das ist typisch: Dem Mann die Schuld geben.“

„Nachnamen? Die hatten keine. Die hießen mit Nachnamen IG Metall.“

6,5 Prozent mehr Lohn fordern die Gewerkschaften. Ist das gerechtfertigt? Ist der Streik das richtige Mittel? „Sieben wären auch gut!“, ruft Dieter Thon und lacht. „Ich halte Arbeitskampf eigentlich für falsch“, sagt Ralf Thon. „Das ist Gewalt. Aber manchmal muss es eben sein.“ Über die Höhe der Forderung sind sich die beiden einig. Der Junior erklärt es so: „In den letzten Tarifrunden gab es immer Abschlüsse um die 2 Prozent. Das hat aber auch keine Arbeitsplätze gebracht. Also werden 6,5 Prozent auch keine Arbeitplätze vernichten. Manche Firmen können sich das auch leisten. Bei anderen wird es allerdings eng.“ Die Thons machen sich keine Illusionen über das Ergebnis. „Eine Vier muss vorne stehen“, sagt Dieter. Und Ralf hat sogar einen exakten Tipp: „4,2 Prozent werden herauskommen.“ Für einen Bohrdrehwerker mit 2.500 Euro brutto wären das vor Steuern 105 Euro mehr.

Der ganze Streik, das ist ein Ritual, das sagen sie beide. Dieter Thon ist es wichtig, was mit dem Geld geschieht. Konsumieren sollen die Leute, damit das Geld wieder in den Wirtschaftskreislauf kommt. In Deutschland. Wenn er mit der Betriebssportgruppe, die nur noch ein Nostalgieverein ist, die Jahresausflüge organisiert, dann nur in Deutschland: „Da bleibt dann einiges Geld in den Kommunen hängen.“ Er weiß, dass er mit solchen Ansichten eher einsam dasteht: „Mit Recht sagen die anderen natürlich, was geht den das an, wo ich in Urlaub hinfahre.“ Dieter Thon will niemandem etwas vorschreiben. Aber: „Ich sage: Nachdenken!“

Ist er stolz auf seinen Sohn, der es weit gebracht hat im Betrieb? „Ich bin stolz, dass meine Kinder es alle selbst geschafft haben. Und bei Ralf bin ich stolz, dass er der IG Metall treu geblieben ist. Dass er immer noch seine Beiträge zahlt.“

Montagmorgen vor dem Werkstor. Ralf Thon ist fast enttäuscht. Er hatte sich ja noch informiert, dass seine Kollegen ihn zwar nicht mit Gewalt abhalten dürfen, seinen Arbeitsplatz aufzusuchen. Aber er dürfe drangsaliert werden. Darauf war er gespannt. „Das wird ein Spießrutenlauf“, hatte er sich gesagt. Und jetzt stellt sich heraus: Zunächst wird nur Babcock-Borsig bestreikt, aber nicht MAN Turbo. Niemand hält ihn auf, und seine Mitarbeiter sind auch schon alle da.

Am Werkstor steht schon sein Vater. Mit dem Bus fährt er nicht mehr gern, dafür hat er sich einen italienischen Roller gekauft, und weil gestern schönes Wetter war, ist er damit zum Streik gefahren. Den wollte er sich nicht entgehen lassen. Auch, weil da so viele alte Kollegen dabei sind. Eine Trillerpfeife hat er auch mitgebracht. Es sind vielleicht 40 Leute, die um halb acht die Einfahrt zum Borsiggelände blockieren. Nur wenige Nichtgewerkschafter schließen sich dem Ausstand an. „Seien Sie soldarisch!“, ruft gerade ein Streikender einer Kollegin nach. „Nein!“, ruft die zurück. „Is’ ja nicht so dolle hier“, sagt Ralf Thon auf dem Weg ins Büro.