Armutszeugnis für die Elite

Ruhig und gelassen erinnert der Bundespräsident daran, wie selten von politischer Gestaltung überhaupt noch die Rede ist

aus Berlin BETTINA GAUS

Wo steht jemand politisch, der den Globalisierungskritikern bescheinigt, die richtigen Fragen zu stellen? Der die Politik auffordert, Instrumente gegen die gigantische weltweite Finanzspekulation zu entwickeln? Der darauf verweist, dass es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer der Globalisierung gibt? Und der betont, dass Menschen nicht so mobil und nicht so bindungslos sind wie das Kapital – und das auch nicht sein wollen? Ganz recht: Er steht über den Parteien. Es ist der Bundespräsident.

Johannes Rau hat bei seiner diesjährigen Berliner Rede, die dem Thema der Globalisierung gewidmet war, die Anforderungen seines Amtes genau beachtet. Ohne Ansehen der Partei oder einzelner Personen stellte er in ruhigem, gelassene, Ton der gesamten politischen Elite der Bundesrepublik ein Armutszeugnis aus. Nicht etwa deshalb, weil er diese Elite angegriffen hätte. Das tat Rau nicht. Sondern deshalb, weil die Ansprache unter der Überschrift „Chance, nicht Schicksal – die Globalisierung politisch gestalten“ überhaupt erst deutlich machte, wie selten bei anderer Gelegenheit von den Möglichkeiten politischer Gestaltung die Rede ist.

„Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, dass es bei uns fast überall Mineralwasser aus der ganzen Welt zu kaufen gibt“, sagte Rau. „Manche sagen: Solange jemand bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen, geht das in Ordnung. Aber ist es denn richtig, dass in kleine Glasflaschen abgefülltes Wasser über die Alpen gefahren wird oder aus Neuseeland zu uns kommt? Dies Wasser lässt sich nur verkaufen, weil die Umweltkosten nicht im Preis enthalten sind, die der Transport über tausende Kilometer verursacht. Hier werden Kosten auf die Allgemeinheit abgewälzt. Hier wird auf Kosten zukünftiger Generationen gewirtschaftet.“

Die Subventionierung der Transportkosten: Sehr viel heißer kann ein politisches Eisen nicht sein. Falls die politische Klasse die Rede des Bundespräsidenten zur Kenntnis nimmt, dann müsste über das, was er zu sagen hatte, nun eigentlich ein erbitterter Streit beginnen. Aber wird sie zuhören? Nur wenig Parteiprominenz fand gestern den Weg ins Museum für Post und Kommunikation: Kerstin Müller von den Grünen, Wolfgang Gerhardt von der FDP, Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Viele Stühle blieben leer in der mächtigen Eingangshalle des weltweit ältesten Postmuseums – ein passender Ort für die Veranstaltung, wie Rau selbst anmerkte: Der Weltpostverein als frühe globale Institution zeige, „dass Freiheit und Regulierung sich nicht ausschließen, sondern zusammengehören, wenn man Erfolg haben will“.

Was aber ist Erfolg? Politischer Erfolg lässt sich in Wählerstimmen messen, und ein Bundespräsident muss darum nicht kämpfen. Das ist Chance und Elend zugleich. Chance deshalb, weil er Dinge sagen kann, die sich im Bundestag kaum noch jemand zu sagen traut, um nur ja niemanden zu verprellen. Zum Beispiel das: „Wir brauchen auch in Deutschland eine Diskussion darüber, wie viel soziale Ungleichheit wir hinnehmen können im eigenen Land und weltweit. Das hat übrigens mit einer Neiddiskussion nichts zu tun.“ Oder: „Moderne Steuerpolitik darf nicht zum Steuersenkungswettlauf werden.“ Oder auch: „Ganz gewiss brauchen wir Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen. Wir müssen über Bismarck hinaus, aber nicht hinter Bismarck zurück.“ Und: „Die Globalisierung ist kein Naturereignis.“ Sie sei von Menschen gewollt, und sie könne auch von Menschen verändert werden. „Es gibt großartige neue Chancen – und es gibt handfeste Interessen.“ Interessen? Was für ein wunderbar altmodisches Wort. Im Parlament ist es durch die Begriffe „Machbarkeit“ und „Realpolitik“ ersetzt worden.

Ja, das Amt des Bundespräsidenten bietet Möglichkeiten. Aber es kann eben auch ein elender Job sein. Ein Staatsoberhaupt darf reden – und dennoch nicht sicher sein, sich Gehör verschaffen zu können. Johannes Rau hat gestern nachdrücklich eine politische Gestaltung der Globalisierung gefordert. Er betonte mehrfach ausdrücklich die großen Chancen der Entwicklung, aber er warnte mindestens ebenso eindringlich vor den Gefahren einer unregulierten Globalisierung: „Wer sich heimatlos und entwurzelt fühlt, der wird leicht zum Opfer fundamentalistischer oder populistischer Parolen.“

Breiten Raum nahm in der Rede das Verhältnis zwischen armen und reichen Ländern ein. „Wir müssen unsere Märkte schrittweise für alle Produkte der Entwicklungsländer öffnen“, sagte Rau. Er forderte eine Stärkung der UNO, bedauerte Rückschläge auf dem Weg zum Aufbau eines Internationalen Strafgerichtshofes – ohne allerdings den Widerstand der USA als Ursache dafür ausdrücklich zu benennen –, rief die Gewerkschaften dazu auf, „heute mehr denn je“ dafür zu kämpfen, dass Arbeitnehmer in verschiedenen Ländern nicht gegeneinander ausgespielt werden, und appellierte an die Bevölkerung, fair erzeugte und gehandelte Produkte zu kaufen.

Es ist in der Vergangenheit häufiger geschehen, dass kluge Überlegungen Johannes Raus nicht die Aufmerksamkeit bekamen, die sie verdienten. Daran ist er selbst nicht unschuldig. Rau verpackt seine Botschaften gerne allzu flauschig und appelliert gelegentlich auch dort an die Moral, wo nüchterne Analyse zum selben Ergebnis käme und besser überzeugen könnte. Auch in der gestrigen Rede finden sich dafür Beispiele. Insgesamt jedoch ist sein Anliegen unmissverständlich: „Wir haben gelernt, dass der Staat keine Wunder vollbringen kann. Wir sollten darüber nicht vergessen, dass auch der Markt nicht die Patentlösung für jedes Problem bieten kann – bei allem, was er leistet.“