„Verschwinden oder sitzen“

Olga Kitowa über Pressefreiheit, Repression – und ihre verhinderte Reise nach Berlin

taz: Sie wollten in der vergangenen Woche an einer Diskussionsveranstaltung in Berlin teilnehmen. Was hat Ihr Kommen verhindert?

Olga Kitowa: Mir wurde mein Auslandspass verweigert. Und das, obwohl der Richter eine Erlaubnis erteilt hatte auf Erhalt des Passes und einer Ausreisegenehmigung. Warum, kann ich nicht genau sagen. Ich verstehe die Logik nicht, nach der hier Entscheidungen getroffen werden.

Sie haben im vergangenen Jahr in mehreren Artikeln über eine Vergewaltigung juristische Fehler und die Korruption in der örtlichen Machtelite angeprangert. Was ist aus der Anklage gegen Sie wegen Verleumdung geworden und wie ist Ihre Situation heute?

Im vergangenen Dezember erging das Urteil. Ich wurde zu zweieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt, einer Geldstrafe von 20.000 Rubeln. Außerdem wurde mir verboten, an Wahlen zur Duma teilzunehmen. Natürlich war das Urteil bereits vorher abgefasst worden. Im April wurde die Angelegenheit dann an das höchste Gericht in Moskau überwiesen. Davon erwarte ich nicht viel. Mir wurde erst vor kurzem deutlich zu verstehen gegeben: Entweder verschwindest du von hier – oder du wirst sitzen. Ansonsten habe ich im vergangenen Jahr so gut wie nicht gearbeitet. Ich saß vor Gericht, bei der Staatsanwaltschaft oder lag im Krankenhaus. Erst kürzlich habe ich meine Arbeit wiederaufgenommen.

Was können Sie über die allgemeine Situation von Journalisten in Ihrem Gebiet sagen?

Bei uns können sich die Journalisten nur vor dem Gouverneur ducken, nichts weiter. Es gibt nicht mehr solche Verrückten, die etwas Kritisches schreiben würden. Die wissen genau, dass sie dann die Sonne nicht mehr sehen. Außerdem würde das sowieso kein Redakteur drucken. Was unser Gebiet angeht, kann von Pressefreiheit keine Rede sein. Das ist nicht mehr als ein theoretischer Begriff.

Kritische Journalisten scheinen in Russland in einem Vakuum zu arbeiten. Werden Sie zumindest von Ihren Lesern unterstützt?

Unsere Leser wollen wissen, was wirklich passiert. Es gab hunderte von Anrufen und Briefen, um mich und meine Zeitung zu unterstützen. Das passiert auch heute noch, obwohl man mich fast ein Jahr lang im Fernsehen als Straftäterin hinstellte. Doch die Menschen können nur passiv ihre Gefühle und ihr Vertrauen ausdrücken. Mehr können sie nicht tun. Sie haben Angst und sind völlig eingeschüchtert. Sie sagen mir direkt: Wenn das schon mit Ihnen gemacht wird, einer Journalistin und Abgeordneten, die das ganze Gebiet kennt, was wird dann erst mit uns passieren?

Die ARD strahlt heute einen Dokumentarfilm aus, der Ihren Fall schildert. Halten Sie derartige Projekte denn für hilfreich?

Das ist sehr wichtig und absolut notwendig. Und das ungeachtet aller internationalen Reaktionen auf meinen Fall, die es schon gegeben hat. Diese Dokumentation hat mir das Leben gerettet. Wenn die nicht gedreht worden wäre, würde es mich wohl auch schon längst nicht mehr geben und niemand würde sich mehr daran erinnern, dass ich überhaupt mal auf dieser Welt war. Doch das ist auch noch aus einem anderen Grund wichtig. Meist ist doch nur von Interesse, was in Moskau passiert. Das zeigt das Beispiel von NTV. Dabei ist die Situation in den Regionen noch tausendmal schlimmer.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL