Wogende Provokation

Die Bauchtänzerin und der Teufelskreis: In „Satin Rouge“ zeigt die tunesische Filmregisseurin Raja Ameri, dass die Vorstellung von Frauensolidarität kaum mehr ist als ein Märchen aus 1.001 Nacht

Der Akt der Vereinigung zeigt wenig und ist doch so real wie in „Intimacy“

von STEFAN WEIDNER

Die Farben sind Blau, Gelb, Rot und Grün. Blau-weiß getüncht sind die Häuser, blau sind die Fliesen, das Meer und der frühe Morgen, wenn man vom Tanzen heimkommt und es schon dämmert. Blau ist die einzige Farbe im Film, die kein Kunstlicht braucht, Blau heißt Frieden.

Gelb ist das erste Bauchtanzkostüm, das Lilia sich heimlich anzieht. Dann tanzt sie damit vor dem Spiegel, und die gelben, glitzernden Troddeln am Büstenhalter beginnen zu wackeln. Es sieht kitschig aus und ein bisschen lächerlich; vielleicht schämt Lilia sich zu Recht. Gelb ist auch der Nachmittag über Tunis, wenn man vor lauter Smog kaum die Dächer sieht. Grün ist das erste Kostüm, mit dem Lilia sich auf die Bühne wagt. Ihr Tanz ist ekstatisch, hinterher ist es ihr peinlich, und der Chef der Bar sagt, sie solle sich nicht so gehen lassen, was hier getrieben werde, sei Kunst. Trotzdem nimmt er sie unter seine Tänzerinnen auf.

Aus rotem Satin besteht das Kleid, das Lilia in der Boutique sieht, die sie schüchtern betreten hat und mit neuen Schuhen und neuem Kleid verlässt. Rot ist die Farbe der Tischdecken im Nachtclub und die Farbe des Weins neben den Aschenbechern voller Kippen. Überhaupt hat in der Nacht, unterm Kunstlicht, alles eine rötliche Tönung, zumal die stockfleckigen Gesichter der alten tunesischen Männer, die gar nicht wie in einem Spielfilm wirken, sondern wie aus einem Dokumentarfilm. Wenn es tagt, wird alles wieder bläulich und blass, aber selbst das ist schön nach einer grellen, roten Nacht.

Die Bildersprache, mit der die junge tunesische Regisseurin Raja Ameri ihren ersten längeren Film erzählt, baut nicht allein auf die poetische Kraft der Farben. Genauso wichtig ist der orientalische Bauchtanz, das Sich-Winden, das Wackeln, das Zucken und Wogen, der stilisierte Geschlechtsakt, die Vereinigung mit dem Raum. Der Film beginnt damit, dass Lilia am Vormittag den Spiegel putzt, und plötzlich verfällt sie dem Rhythmus aus dem Radio, knüpft sich das Haar auf, schwingt die Hüften. Kurz vor dem Ende des Films nach einem durchtanzten Abend, als es tatsächlich zur Vereinigung kommt, lebt der Tanz fort in der Großeinstellung auf Lilias Gesicht – ein Akt, der wenig zeigt und doch so real ist, wie man es in „Intimacy“ gesehen hat. Und sonst nirgends, in arabischen Filmen schon gar nicht.

Lilia wird gespielt von der großartigen palästinensischen Schauspielerin Hiam Abbas. Sie ist eine schöne Witwe, eine Mutter, der langsam die Kontrolle über ihre Tochter entgleitet. Diese raucht, kleidet sich freizügig, übernachtet bei der Freundin, trifft Männer. Als die Mutter ihr nachspürt, gerät sie in ein spelunkiges Bauchtanzlokal und fällt in Ohnmacht vor lauter Drehungen, Gerüchen und Farben. Mit einer Tänzerin, die sich um sie kümmert, freundet sie sich an, kommt dann regelmäßig in den Club, legt alle Hemmungen ab, tanzt zuletzt selber und beginnt eine Affäre mit dem Trommler des Lokals, der der Freund ihrer Tochter ist. Doch die große Verwicklung bleibt aus.

Wenn man der Regisseurin auf den Leim geht und ihren Film für cineastischen Realismus nimmt, wird man das eigenartige Happy-End (wir enthüllen es nicht), mit Unverständnis quittieren. Womöglich verrät dieses Ende den Film, verrät sein Problembewusstsein, seine Freizügigkeit. Und doch ist es nur die konsequente Umsetzung dessen, was schon in einzelnen Motiven anklang: dass es sich um die Verfilmung einer Utopie aus Märchenversatzstücken handelt.

Das Verhältnis von Mutter und Tochter und die Solidarität unter den Frauen könnten, ja sollten so sein, wie der Film sie zeigt, aber sie sind es natürlich nicht. Daher ist die vermeintliche Provokation, die vordergründige Freizügigkeit des Films auf höherer Stufe außer Kraft gesetzt und in der Märchenlogik mit ihrer Poesie aus Farbe und Bewegung aufgehoben, so wie auch die Märchen aus 1.001 Nacht freizügiger sind, als es heute in der arabischen Welt jede realistische Erzählung sein darf. Die sozialrevolutionäre Kraft, die den Märchen und damit auch dem Film innewohnt, sollte man dennoch nicht unterschätzen.

In Tunesien, wo „Satin Rouge“ mittlerweile angelaufen ist, vermeldete die Presse das Ereignis mit der Überschrift: „Ein konkretes Beispiel für die Meinungsfreiheit in Tunesien!“ Dass Meinungsfreiheit im Polizeistaat Ben Alis dennoch nicht existiert, davon zeugt, dass der Inhalt des Films mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn diskutiert wurde. Stattdessen bekam man zu lesen, wie die aus Palästina stammende Hauptdarstellerin in Tränen ausbrach, als vor der Aufführung des „heroischen palästinensischen Widerstands“ gedacht wurde. Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Nahost gilt ein Gespräch über Filme in Tunesien offensichtlich als ein Verbrechen. Dass ein Gespräch über Palästina ein Schweigen über zahllose andere Untaten ebenso einschließt, fällt dabei natürlich unter den Tisch. Raja Ameri ist mit ihrem ersten langen Film auf märchenhafte Weise aus diesem Teufelskreis herausgesprungen.

„Satin Rouge“, Regie: Raja Ameri. Mit Hiam Abbas, Hend El Fahem, Maher Kamoun u. a., Frankreich/Tunesien 2002, 91 Min.