Nicht die Zitrone pressen

Die Beschlüsse des Senats erschüttern Hamburgs Schulwesen in seinen Grundfesten. Sparen an Integration, Prävention und Beratung befördert die soziale Auslese. Exklusiv in der taz hamburg: Die Analyse der langjährigen Schulsenatorin Raab

von ROSEMARIE RAAB

Was mit dem Hamburger Schulwesen geschieht, kann einer ehemaligen Schulsenatorin nicht gleichgültig sein. Zumal dann nicht, wenn es in seinen Grundfesten erschüttert zu werden droht. Und dies zeichnet sich auch nach dem Versuch der Koalition ab, die „Vereinbarungen zur Hamburger Schulpolitik“ zu „präzisieren“, wie es in der Meldung der Staatlichen Pressestelle vom 15. Mai heißt. Auch wenn sich die Zahl der zu streichenden und umzuschichtenden Lehrerstellen (noch) nicht exakt bezif-fern lässt, die Größenordnung ist klar: Es werden Hunderte von Lehrerstellen gestrichen und Hunderte von Lehrerstellen „umgeschichtet“, um zusätzliche Schülerinnen und Schüler zu unterrichten und neue Maßnahmen wie Ganztagsschulen und achtjähriges Gymnasium zu finanzieren. Der Konsolidierungsbeitrag der Bildungsbehörde ist gegenüber den Jesteburger Beschlüssen nicht wesentlich reduziert, nur die Spielräume für die dazu erforderlichen Eingriffe sind erweitert worden. Aber welche hat sie im Schulbereich wirklich?

In der Tat: Hamburg hat das am besten ausgestattete Schulwesen in der Republik. Hamburg gibt am meisten Geld je Schüler aus, und in keinem anderen Bundesland ist die Schüler-Lehrer-Relation günstiger: Rechnerisch kommt in Hamburg auf 15 Schüler ein Lehrer, im Bundesdurchschnitt sind es 17 Schüler pro Lehrer. Ist Hamburgs Schulwesen also eine saftige Zitrone, die sich schadlos weiter auspressen lässt?

Das Hamburger Schulwesen hat in den beiden zurückliegenden Legislaturperioden gravierende Einschnitte verkraften müssen. Für zusätzliche Schüler gab es keine zusätzlichen Lehrer, in der Legislatur 1997 bis 2001 mussten sogar rund 200 Stellen an den Haushalt abgeliefert werden: Dass Hamburg in Sachen Ausstattung dennoch Spitze geblieben ist, mag den schulpolitischen Laien zu der Annahme verleiten: Da ist noch mehr rauszuholen. Aber auch das ist richtig: Bei der Kennziffer „Schüler pro Klasse“ ist Hamburg Durchschnitt, bei der Kennziffer „Unterrichtsstunden pro Klasse“ ist Hamburg Durchschnitt und bei der Kennziffer „Lehrerpflichtstunden“ ist Hamburg ebenfalls nur Durchschnitt. Stecken die vielen Stellen also – wie gemutmaßt wird – in einer „aufgeblähten Verwaltung“? Mitnichten. Denn Hamburg hat alles andere als eine „Durchschnittsschülerschaft“ und Hamburg hat mit dem Schulgesetz von 1997 bildungspolitische Schwerpunkte gesetzt, die anderswo erst noch einzulösen sind.

Dazu einige Beispiele: Hamburg hat den mit Abstand höchsten Anteil an Kindern und Jugendlichen aus Migrationsfamilien – er ist annähernd doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Allein für die Förderung dieser Schülerinnen und Schüler stehen rund 800 Lehrerstellen bereit. Hamburg leistet sich eine „Verlässliche Halbtagsgrundschule“, die auf Pädagogik statt auf Betreuung setzt. Hamburg leistet sich wie kein anderes Bundesland die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule.

Hamburg leistet sich mit Beratungslehrern, den Beratungsdiensten der Gesamtschulen und den Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (kurz: REBUS) das aufwändigste Präventions- und Hilfesystem der Republik. Hamburg leistet sich eine Berufsvorbereitungsschule zur beruflichen Integration Benachteiligter. Hamburg leistet sich den ausdifferenziertesten Wahlpflichtbereich, um die individuellen Stärken der Schülerinnen und Schüler zu fördern; beispielsweise kann Hamburg auf das vielfältigste Angebot an Fremdsprachen verweisen.

Hamburg leistet sich die bundesweit höchste Abiturientenquote.

Und Hamburg leistet sich mehr Ganztagsschulen als viele andere Bundesländer. Hamburg leistet sich Schriftsprachberaterinnen und -berater an Grundschulen in sozialen Brennpunkten, um insbesondere benachteiligte Schülerinnen und Schüler beim Schriftspracherwerb zu unterstützen. Hamburg als Medienmetropole leistet sich eine bundesweit einmalige Ausstattung mit neuen Medien und investiert wie kein anderes Bundesland in die Lehrerfortbildung als Grundstein der Schulentwicklung. Und: Hamburg leistet sich die bundesweit höchste Abiturientenquote.

Dies nicht zuletzt, weil die Gesamtschulen dazu beitragen, dass auch sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler das Abitur erreichen können – dank der Teilungs-, Differenzierungs- und Förderstunden, die anderswo für Klassenwiederholer und zweite Bildungswege investiert werden. 29 von 38 Gesamtschulen haben eine Schülerschaft, deren Sozialindex unter dem Hamburger Durchschnitt liegt. Unter den 63 Hamburger Gymnasien sind es gerade sieben – was im Übrigen schwer nachvollziehen lässt, warum über 50 Prozent der mit dem Haushalt 2002 bereits beschlossenen Kürzungen bei den Lehr- und Lernmitteln um 1,3 Millionen Euro ausgerechnet auf die Gesamtschulen entfallen. All dies (und Weiteres mehr) macht den Unterschied. All dies geht ein in 15 statt 17 Schüler pro Lehrer und in 5.800 Euro statt 4.200 Euro pro Schüler und Jahr im Bundesdurchschnitt.

Man kann darauf verzichten. Aber dann muss man das sagen.

Man kann darauf verzichten. Man kann den Gesamtschulen die Voraussetzungen entziehen, mit denen sie ihren spezifischen Bildungsauftrag erfüllen. Man kann die Integration von Kindern und Jugendlichen aus Migrationsfamilien, die Integration von sozial Benachteiligten, die Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen, die Prävention und Beratung, die Lehrerfortbildung und Schulentwicklung, die Ausstattung mit neuen Medien und auch die Abiturientenquote auf bundesdeutschen Durchschnitt trimmen. Man kann die Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaften ignorieren und den Hamburger Schüler zum bundesdeutschen Durchschnittsschüler erklären.

Aber dann muss man das auch sagen. Und man muss dazusagen, dass dies das Hamburger Schulwesen der sozialen Auslese preisgibt.