Im Krebsgang

Was kommt, wenn nichts mehr kommt: Will Self las im LCB böse Monologe aus seinem Buch „Wie Tote leben“

Gelassen ruht der Wannsee im Abendrot. Der Lesesaal des Literarischen Colloquiums taugt gerade wegen der hübschen Aussicht kaum für eine Will-Self-Lesung. Theoretisch. Schließlich gilt der 42-jährige Autor und Journalist nicht ohne Grund als „des Wahnsinns fetteste Beute“ in der englischen Gegenwartsliteratur. Praktisch hat man sich dann allerdings in einem recht stolzen Grüppchen am idyllischen Sandwerder eingefunden, um Selfs todzeitdiagnostische Geschichten von ihm persönlich gelesen, oder besser: performt zu bekommen.

Self gehört zu der Sorte Autoren, die ihre Texte während des Rezitierens immer auch leben. Munter schaut er drein, rosige Gesichtsfarbe, verdächtig harmlos. Britisch trocken und Selfisch spitzfindig beantwortet er die Fragen des Moderators (Denis Scheck) zur Einführung. Und doch wirkt dieses Vorabgespräch bei so viel Ambiente noch sehr verkrampft: Der Zyniker muss sich erst warm laufen.

Natürlich ist Will Self vor allem gekommen, um sein in Deutschland gerade erschienenes Buch „Wie Tote leben“ vorzustellen. Wie bereits in früheren Erzählungen und Romanen zieht er darin genüsslich über die westliche Zivilisation her. Mehr als je zuvor kreisen seine böse-grotesken Parabeln hier um das Leben kurz vor und nach dem Tod – also um Gedanken darüber, was kommt, wenn nichts mehr kommt.

Für Lily Bloom, die 66-jährige, unheilbar krebskranke Heldin in Selfs Roman geht das Leben weiter, einfach so. Okay, Lily muss sich den Regeln der Todokratie unterwerfen und in einen irre öden Vorort Londons ziehen, in ein abgewracktes Haus, „wo der verkalkte Kadaver meiner Lust seinen Shimmy tanzte und das wütende Kind, das ich gemeuchelt hatte, tobte“. Aber immerhin kann sie das Rauchen nicht mehr umbringen. Grausamkeit, Ekel, Versagen: In Will Selfs Todesalltagsfantasien wird der Zynismus nur noch durch die dahinter kauernde Verzweiflung überboten.

Genauso überzeugt liest er an diesem Abend eine lange Episode aus dem inneren Monolog der noch lebenden Lily, die äußerst geistreich über ihr verkorkstes Leben, ihre Familie und eigentlich Gott und die Welt wettert. Englische Tinte könnte schwärzer kaum noch sein. Für den perfekt szenisch gelesenen Tod seiner Protagonistin hat Self sich an diesem Abend jedoch noch weibliche Unterstützung geholt. Schauspielerin Regina Lemnitz schmettert zum Schluss der Lesung eine ergreifende Bitter-Death-Symphonie. Das versetzt die ohnehin schon todesgebeutelte Zuhörerschar endgültig in einen weichen Zustand depressiver Melancholie. PAMELA JAHN