: Das Ende einer Hätte-Saison
Bayer Leverkusen bleibt sich treu, verspielt nach Meisterschaft und Pokal gegen Real Madrid auch noch den Europacup und erntet für seine stilvolle Verliererverkörperung gewohnte Lobeshymnen,
aus Glasgow RALF SOTSCHECK
„Bei unseren Spielen steht der Teufel immer auf der Gegenseite“, stellte Bayer Leverkusens Manager Reiner Calmund nach dem mit 1:2 verlorenen Champions-League-Finale gegen Real Madrid am Mittwoch im Glasgower Hampden Park überrascht fest. Diesmal hatte der Teufel die Gestalt des Ersatztorwarts Iker Casillas angenommen. Er hatte in der 68. Minute den verletzten Stammtorhüter César ersetzt. „Reals Manager Jorge Valdano hat mir gesagt, dass César die drei Schüsse in der Nachspielzeit niemals gehalten hätte“, meinte Calmund.
Doch so war es der offenbar unvermeidliche Abschluss einer „Hätte“-Saison für Leverkusen, das längst „Neverkusen“ genannt wird. Erst hat man die Meisterschaft auf der Zielgeraden vergeigt, dann das Pokalendspiel gegen Schalke, und nun auch das Finale der Champions League gegen Real Madrid. Leverkusens Trainer Klaus Toppmöller, der sich aus Anlass des großen Tages zum ersten Mal ordentlich gekämmt hatte, gab sich nach dem Spiel dennoch zufrieden. „Wer zu Beginn der Saison prophezeit hätte, dass wir drei Mal Zweiter werden, wäre in die Klapsmühle gekommen“, sagte er. Die Niederlage gegen Real sei „so ärgerlich“, meinte Toppmöller, aber Fußball sei eben manchmal grausam. „Am Ende überwiegt der Stolz, Real alles abverlangt und den Zuschauern ein tolles Spiel geboten zu haben“, sagte er.
Und er hat Recht. Es war eins der besseren Endspiele, weil beide Teams in Ermangelung guter Abwehrreihen zunächst auf Angriff setzten. Raúls 1:0 nach einem Einwurf von Roberto Carlos war denn auch einer verschnarchten Leverkusener Abwehr zu verdanken. Torhüter Butt habe dabei wie ein Kartoffelsack gewirkt, höhnte der schottische Fernsehkommentator Ron Atkinson. Toppmöller beklagte, dass man Carlos‘ weite Einwürfe hundert Mal auf Video studiert habe: „Und dann so etwas. Die Mannschaft bestraft sich selbst.“
Zehn Minuten nach dem 1:0 war Butts Kollege César Ziel von Atkinsons Spott, weil er bei Lucios Ausgleich per Kopfball „blind im Niemandsland herumgeirrt“ sei. Danach hatte Leverkusen das Spiel im Griff. Aber nur bis kurz vor dem Pausenpfiff, als plötzlich Zinedine Zidane, der bereits zwei Mal in europäischen Endspielen gestanden und beide Male verloren hatte, mit einem grandiosen Volley dafür sorgte, dass sich die Unglücksserie nicht fortsetzte. Sein Sonntagsschuss wird auch in zehn Jahren noch gezeigt werden, wenn es um die schönsten Tore des Jahrhunderts geht. „Ich habe ein nettes Tor geschossen, doch das wichtige an diesem Abend ist der Titel“, sagte Zidane. Der Titel rettete für Real, das in diesem Jahr 100. Geburtstag feiert, eine verkorkste Saison.
Das 3:1 für Madrid wurde nicht gegeben. Zum einen war das Spiel nach der Halbzeitpause noch gar nicht angepfiffen, zum anderen trug der Torschütze nicht die vorschriftsmäßige Sportbekleidung. Er war nackt. Mark Roberts schnappte sich den Ball, der zum Anstoß bereitlag, dribbelte ihn an den Leverkusener Spielern vorbei und schoss ihn ins Netz. Sein Torjubel war durchaus professionell. Der 37-jährige aus Liverpool ist ein „Serienflitzer“, der schon bei vielen anderen Veranstaltungen nackt herumgehüpft ist. Die beiden Polizisten, die ihn schließlich in eine Decke hüllten und vom Platz geleiteten, freuten sich mit ihm über die gelungene Aktion.
Reals Spieler hatten offenbar auch Videos vom Gegner gesehen, aber mehr daraus gelernt. So wussten sie, dass ein Tor kurz vor der Halbzeitpause – wie im Pokalfinale gegen Schalke – lähmend auf das Bayer-Team wirkt. In der zweiten Halbzeit tat sich zunächst tasächlich nicht viel, bis Bayer in der Schlussphase noch einmal aufwachte. Zum Entsetzen der Real-Fans ließ der Schweizer Schiedsrichter Urs Meier sieben Minuten nachspielen, in denen der zum Stürmer gewordene Butt, Bastürk und Berbatow den verdienten Ausgleich erzielt hätten, wenn Casillas nicht gewesen wäre.
Die schottische Presse war sich gestern einig, dass das Finale die würdige Nachfolge des legendären Hampden-Endspiels von 1960, das als bestes Spiel aller Zeiten gilt, angetreten habe. Damals besiegte Real Eintracht Frankfurt mit 7:3. Alfredo di Stefano, Ferenc Puskas, Egon Loy und viele andere Spieler aus beiden Mannschaften waren am Mittwoch im Stadion. Was die Atmosphäre anging, so konnte das Spiel mit dem von 1960 sicher mithalten. Zwar waren es diesmal nicht 127.000 Zuschauer, sondern nur 50.000, aber die spanischen Fans machten Lärm für 150.000 und feierten bis spät in die Nacht.
So nah wie am Mittwoch wird Leverkusen dem Pokal in absehbarer Zukunft nicht mehr kommen. Die beiden Starspieler Michael Ballack und der am Mittwoch gesperrte Ze Roberto, die den Verein verlassen, werden könne man nicht ersetzen, sagte Toppmöller. Statt dessen werde er es mit Nachwuchsspielern probieren. Zum Abschluss fragte der Trainer verzweifelt, ob es denn einen Fußballgott gebe? Ja, es gibt ihn. Aber er ist nicht Leverkusener.
Bayer Leverkusen: Butt - Sebescen (65. Kirsten), Zivkovic, Lucio (90. Babic), Placente - Schneider, Ramelow, Ballack, Bastürk - Neuville, Brdaric (39. Berbatow) Real Madrid: Cesar (68. Casillas) - Salgado, Hierro, Helguera, Roberto Carlos - Makelele (73. Flavio), Solari, Figo (54. McManaman), Zidane - Raúl, Morientes Zuschauer: 51.456; Tore: 0:1 Raúl (9.), 1:1 Lucio (14.), 1:2 Zidane (45.)
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