Aschenputtels Märchengarten

Die Landesgartenschau in Eberswalde ist eine gelungene Mischung aus Industriedenkmalskirmes, Volksfest, Blumenpracht, Natur und Märchenwald. Bei so viel Synthese kommt die Stadt ins Gespräch – und der Besucher ins leise Staunen

von WALTRAUD SCHWAB

Eberswalde, das war Kranbau. Imposant, schwer und schwebend haben die Kräne in den Himmel geragt. Olivgrün gestrichen, wenn sie neu waren. Und in der brandenburgischen Stadt waren sie oft neu. Früher zu DDR-Zeiten haben 5.000 Leute in den Kranbauwerken gearbeitet. Heute sind es noch 160. Nicht nur die alte Industrie ist weg, auch der Stolz. Die Kräne konnte man vorzeigen. In aller Welt. Und dann kam die Wende. Und danach? „Nichts“, sagt ein alter Eberswalder, der früher bei der Post war. Seine Frau stimmt ihm zu.

Seit Ende April aber spüren die Eberswalder, dass sie wieder etwas haben, was sie zeigen können: Die Landesgartenschau. „Blütenträume am Finowkanal“ heißt sie. Die Schrift auf den Plakaten setzt zwischen „Blüten“ und „Träume“ eine Zäsur. Noch ist unentschieden, was hier in Erfüllung geht. Ein kleines Wunder ist schon geschehen: Von auswärts reisen die Leute wieder her. Auch aus Berlin, „dort, wo alles besser gewusst wird“, weiß der Postmann.

Recht hat er: Die Hauptstadtbewohner kommen miteinander ins Gespräch auf der Fahrt im Oberleitungsbus vom Bahnhof zur Gartenschau. „Schön, dass man jetzt wieder raus aus Berlin kann“, sagt eine Alleinreisende. „Ich hab das noch mit der Mauer erlebt, ich bin Jahrgang 35.“ Mit ihrer Geschichte geizen die Berlinerinnen selten, wenn sie sicher sind, ein Publikum zu haben. „Wie haben wir die Trümmerfrauen bemitleidet. Immer mussten sie in der Sonne schuften. Meine Mutter auch. Und die Berge von Toten. Die Russen haben sogar die Türen ausgehängt, um mit den Pferden durch die Wohnung zu reiten.“ Kaum aus Berlin raus, ist sie schon in der Vergangenheit. „Da haben Sie ja einiges erlebt“, wird ihr mit halber Aufmerksamkeit von einer Jüngeren bestätigt, die gleichzeitig nach dem Garten Ausschau hält. „Dorthin müssen Sie“, zeigt eine Eberswalderin, die zugehört hat. „Gehen Sie unbedingt auf den Kran. Es lohnt sich“, rät sie.

Der „Montage-Eber“, das neue alte Wahrzeichen, ist von weitem sichtbar. Prototyp eines Lastkrans aus Eberswalde, der nie in Produktion ging. 56 Meter hoch, 326 Tonnen Konstruktionsgewicht, 32 Tonnen Haupthub. Restauriert und auf dem Gelände der Landesgartenschau wieder aufgebaut.

„Auf zur Landesgartenschau“, animiert der Busfahrer, als wäre er ein Radiomoderator. Ausflug in einen 17 Hektar großen Garten, der mehr ist: Volksfest, Nische, gebündelte Natur, Industriedenkmalsjahrmarkt, Märchenwald, Schau und Show. Mit Schlagern, Blasmusik, Sehnsucht, Glockenspiel und dem kleinen Staunen. Der Wind trägt das geschmetterte „Blau. blau, blau, blüht der Enzian“, bis zum Eingang. Dahinter verschwindet die Dame mit der Trümmerfraumutter in der Menge.

Auf einer Industriebrache mitten in der Stadt, auf der schon vor 400 Jahren eine Eisenspalterei stand, dazu eine Kohlehalde und Teile des Kranbauwerks, wurde die Gartenschau angelegt. Die Ruine des Walzwerks ist als Gerüst restauriert. Dabei stießen die Planer auf alte „Betriebsarchen“, wassergefüllte, unterirdische Gräben, die vom Finowkanal gespeist waren und mit denen vor der Elektrifizierung eine riesige Turbine angetrieben wurde. Für die Gartenschau sind die Gräben neu ausgehoben und wieder geflutet. Im Tretboot können sie befahren werden. Unter den geschwungenen Backsteinbögen bekommt jedes Wort sein tiefes Echo. „Coca-Cola, Schoca-Schola, Zoca-Zola“ schreien Übermütige in die feuchten Tunnel. Es kommt als Donnergrollen zurück.

Restauriert wurde auch das „Blechenhaus“ von 1818, in dem nun Reproduktionen der Eisenhüttenmaler Adolf Menzel und Carl Blechen hängen, sowie die „Hufeisenfabrik“, wo bis in die Siebzigerjahre derartige Glückssymbole für den Export nach Kuba gefertigt wurden. Hier ist jetzt von „Blumenlust“ die Rede. Das lockt die Geraniengeneration. Drinnen werden Stillleben fotografiert: Auf einer Bank vor Fleißigen Lieschen und Begonienmeer schauen Gattinnen, Schwägerinnen und Großmütter in die Linsen ihrer Vertrauten. Frauen, die nebeneinander sitzen, aber nicht in die gleiche Richtung blicken und Männer, denen die Kehle von so viel Idylle trocken wird.

Auf der Landesgartenschau tummeln sich all jene Menschen, die in Komparsenszenen die Stars sind: Da die Blonde mit der roten Bluse, die einen Löffel Eis in den Mund steckt, ihn halb abgeleckt wieder heraus zieht und durch ihre rote Sonnenbrille betrachtet. Ihr breitschultriger Mann setzt sein Bier ab, schürzt seine untere Lippe über die obere und zieht den Schaum, der am Schnurrbart hängen geblieben ist, schlürfend in den Mund. „Death of a clown“ schallt es über das Gelände. Zwei Damen haben sich Sonnenschirme im Blütenträumedekor der Gartenschau besorgt, eine Göre mit Überbiss streckt ihren Finger aus und zeigt auf etwas, was keiner außer ihr sieht. Menschen, die im Katalog nie die Kleider vorführen könnten, die sie tragen, sind hier. Jeder sein eigenes Original vor einer Kulisse, in der ein Lorbeerbaum im Tontopf gleichwertig neben einem Eisstand, einer ORB-Werbung und einem alten Industriedenkmal steht.

Täglich sollten 3.500 Gäste kommen, damit sich das Spektakel rechnet. „Wir müssen das Fest immer frisch am Laufen halten“, sagt Katja Grothe, die Pressevertreterin der Landesgartenschau.

Für jeden ist angerichtet: Blumen für die Blumenfreaks, Kräne für die Kranfans, Zauber für die Naturhungrigen, Pollen für die Bienen und Märchen für die Kinder.

Unter der alten Kranbahn liegen die Prachtbeete: Eins für „Heavy Metal“ ist da, mit Blumen nur in Metallfarben. Oder „Molly Bloom“ ganz in Rot. Auch „S M X L“, wo Kleinwüchsiges neben Monströsem blüht. Der Hit unter den Blumenbeeten aber ist der „fliegende Teppich“. Ein kleines blondes Mädchen hat sich im Yogasitz auf den Bambusrand des Teppichs gesetzt, die Hände hält es im Halbkreis nach oben. Dabei gibt es ein lang ausgeatmetes „Ooommmm“ von sich. Im Herzgarten dagegen sitzt ein Pärchen auf einer riesigen Bank: Links am äußersten Rand der Mann, die Frau aber ganz rechts. Dazwischen das Schweigen.

Unweit davon beim Schleusenwärterhäuschen am Kanal, das nun Liebermann-Café heißt, wirkt die Natur naturbelassen. Ufer sind mit Blumen verschönt, die Landzunge als brandenburgische Riviera hergerichtet, ein Zauberweg angelegt. Mit Narzissen, Wunderblume der Selbsterkenntnis, mit Glockenspiel und in Bäumen versteckten Gartenzwergen soll der Ort zum Tummelplatz von Feen und Elfen werden. Selbst die alte Streuobstwiese des Schleusenwärters blieb erhalten. „Born to be wild“. Zwei Junge werfen an der Bootsanlegestelle mit martialischem Gesichtsausdruck Karateschläge zum Rhythmus der vom Wind herangetragenen Rockmusik in die Luft. „Bestimmt ist der da gerade singt jener Gary Glitter, der letztes Jahr auf dem Müllerstraßenfest aufgetreten ist“, sagt eine Berlinerin.

Tulpenblüten und Goldlackduft hüllen die Flaneure ein. Blumenbeete, angelegt wie Muskelfasern, weisen den Weg. Fluchtpunkt am Horizont ist die „Märka: Märkische Kraftfutter GmbH“. Im Jargon der Gartenarchitekten wurden deren Futtermittelsilos zum „Getreideschloss“. Die Märchenmetapher macht alles schön. Auch die Abfalldeponie der Industriebrache, die nun ein Dornröschenhain ist. Weil sie zehn Jahre lang nicht betreten werden darf, ist sie mit einem undurchdringbaren Rosenring bepflanzt. Dahinter liegt – versteckt im Wald – ein wirklich verzauberter Ort für Kinder: Hexen- und Geisterhäuser, durch die der Wind pfeift, Schlösser, mit Zwiebeltürmen, die erklommen werden müssen, fliegende Teppiche und umgedrehte Pilze.

Hinter dem Märchenwald aber steht der Kran, der über dem ganzen Gelände thront. Die Plattform in 30 Metern Höhe ist der Aussichtspunkt. Von dort fällt der Blick über die Gartenschau, die Stadt und den Barnim. In der Südwestkurve steht ein Vater mit seinem Kind und zeigt zum Horizont. „In dieser Richtung liegt Mallorca“, sagt er.