Die Letzten von Placentia Bay

Jack hat ausgehalten. Das ganze Jahr über lebt er in Placentia Bay. Hier hat er seine Unabhängigkeit und sein Auskommen, dank der Fischereilizenz. Auf den einsamen Inseln der Südküste Neufundlands verschwinden die Spuren der Vergangenheit

Hummer bringt Geld, wenn es auch die kräftigen Burschen nicht mehr gibt„Du weißt, da draußen ist mehr,und du musst eseinfach sehen“

von FRANZ LERCHENMÜLLER

Jack Sullivan hat Besuch. Sein Bruder Joe ist mit dem Boot aus Arnolds Cove gekommen, um beim Bergen und Einlagern der fast hundert Hummerfallen zu helfen. Und jetzt hat auch noch Dave Slade mit seiner „Bay Rover II“ im winzigen Hafen von Little Brule festgemacht. Jack nimmt die Pfeife aus dem Mund mit den Zahnlücken und strahlt mit so großer Freundlichkeit über sein offenes irisches Gesicht, dass die Ohren unter der Baseballmütze aufzuglühen scheinen: Wer das ganze Jahr allein auf einer Insel lebt, mag Besuch. Es muss nur der richtige sein.

Leute wie Dave zum Beispiel, der Mann aus North Harbour mit dem grauen Schnauzer und dem trockenen Humor. Freilich: Solange er noch als Wildlife-Officer herumgereist war, hatte sein Auftauchen nicht unbedingt Begeisterung ausgelöst – obwohl er eigentlich nur Seeadler zählte oder betäubten Schwarzbären Sender umlegte und sich nicht von Amts wegen darum kümmern musste, wenn mal ein Karibu zufällig seinen Weg in den Kochtopf fand. Aber einer im Staatsdienst, da war man besser vorsichtig … Doch Dave, da konnte man nichts sagen, war trotz Uniform Mensch geblieben. Umso besser, dass er jetzt, mit 54, endlich pensioniert wurde und nun mit seinem Boot Maschinenteile für die Come-by-chance-Raffinerie transportiert. Und manchmal auch Touristen. So wie heute. Das winzige Haus, das Jack sich vor drei Jahren direkt über der Bucht hingestellt hat, ist überheizt. Auf den vielleicht zehn, elf Quadratmetern findet alles Notwendige Platz: das rote Etagenbett, die zwei roten Stühle mit dem roten Tisch, auf dem noch Ketchup und Zucker vom Abendessen stehen. Herd, Petroleumofen, Radio. Der Karton mit den Sonntagskleidern. Und natürlich der kleine Fernseher, den Jack kürzlich geschenkt bekommen hat und über dessen Bildschirm gerade eine junge Frau tanzt, ein wenig leicht bekleidet, sodass es Joe, der seinem Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten scheint, doch schwer fällt, sich loszureißen und den Gästen zu widmen.

Draußen im Schuppen rattert der Generator. Flackernde Birnen erleuchten den Steg, eine Treppe führt zur Kaimauer hinunter, an der die beiden Boote liegen. Ringsum in der Dunkelheit die Wasser der Placentia Bay: Wie eine breite Klinge schneidet sie zwischen Burin- und Avalon-Halbinsel in den Süden Neufundlands, übersät von zahlreichen Rostflecken: eine Ansammlung kleiner und größerer Inseln.

Jack Sullivan stopft die Pfeife und schmunzelt. Er ist zufrieden. Eben ist die Hummersaison zu Ende gegangen: 3.000 Pfund hat der Aufkäufer in den letzten drei Monaten bei ihm abgeholt, sechs Dollar das Pfund, da kommt schon etwas zusammen. Und noch besser: Da bleibt auch einiges übrig, jedenfalls wenn man bescheiden lebt wie Jack: Fisch liefert die See. Für Vitamine sorgt Joe. Der hat oben auf dem Hügel in einer moorigen Senke Kohl und Kartoffeln gepflanzt. Fehlen noch Kaffee und Tabak, viel mehr braucht ein Mann nicht, solange er gesund ist.

Die Gäste haben Bier angeschleppt. Joes Augen leuchten, Jack lehnt freundlich ab. Schließlich hat er in den sechzig Jahren hier draußen bei seinen beiden einstigen Nachbarn zur Genüge miterlebt, was Alkohol anrichten kann: Tagelang feierten sie, wenn Geld da war, Paddy tanzte im Petticoat auf den Felsen, am Ende zündete seine Mutter das Haus an … und schon sind sie bei den ganz alten Geschichten. Nein, sagt Jack. Er hat nie bereut, dass er hiergeblieben ist, damals, als er fünfzehn war und seine Mutter ihre Sachen packte und mit Joe aufs Festland übersiedelte. Viele gingen damals, von allen Inseln zogen sie weg, Great Brule und King Island und Merasheen Island. Es waren die Fünfziger- und verstärkt dann die Sechzigerjahre, die Regierung von Neufundland wollte reinen Tisch machen: Viel zu aufwendig war es ihr, all diese winzigen Flecken an den abgelegenen Küsten zu versorgen. Für Dörfer, deren Einwohner zu 90 Prozent einer Übersiedlung in bewohntere Gegenden zustimmten, gab es bares Geld. 200 Dollar pro Person erhielt eine Familie, die wegzog, dazu 1.000 Dollar für das Haus. Manche freilich nahmen ihren Bau lieber mit, setzten ihn auf ein großes Floß und schipperten damit an den neuen Wohnort. „Resettlement“ hieß das Programm.

Er, Jack, hat ausgehalten, ist heute einer der Letzten, die das ganze Jahr in Placentia Bay leben. Hatte ja seine Unabhängigkeit hier draußen und sein Auskommen, dank der Fischereilizenz. Die verkaufte er auch nicht, als die Regierung 1992 das „Moratorium“ verkündete und den Kabeljaufang verbot, weil die Meere um Neufundland leer gefischt waren. Viel Geld hätte er jetzt dafür bekommen können, weit über 100.000 Dollar. Er ging nicht darauf ein, und er fuhr gut damit: Der Hummer bringt Geld, wenn es auch die kräftigen Burschen von früher nicht mehr gibt.

„There’s not a mean bone on him“, sagt Dave über Jack, als er mit seinen Gästen am nächsten Morgen von Little Brule ablegt. Das höchste Kompliment, das ein Neufundländer zu vergeben hat: ein durch und durch anständiger Kerl, der kleine Mann, kein fieses Stück Knochen an ihm! Vorsichtig steuert Dave die „Bay Rover II“ durch die Inselwelt der nördlichen Placentia Bay, die auf der Seekarte an ein verstreutes Puzzle erinnert. Ein geisterhaft schöner Tagesanbruch: Aus dem Nebel tauchen Schemen, die an ziellos treibende Burgen erinnern, an versteinerte Wale und die knochigen Rücken von Riesenechsen, die seit Jahrtausenden bewegungslos im Wasser ruhen. Irgendjemand hat mächtig mit der Schere hantiert und eine Silhouette nach der anderen aufs bleiern ruhige Wasser gesetzt: Sägeblätter, Vulkankegel, felsige Schädel mit schütteren, struppigen Fichtenborsten.

Am Kai von Bar Haven trocknen die Schnüre einer Muschelfarm. Auf die grasige Anhöhe dahinter hat jemand ein nagelneues Sommerhaus gebaut. Von der Gemeinde, einst Zuhause von 50 Familien, ist einzig das Fundament der katholischen Kirche geblieben, vom Gipfel kann man die Kreuzform des Grundrisses deutlich erkennen. „Sie war sehr groß und hatte wunderschöne Deckengemälde“, erinnert sich Dave. Bald nachdem Dorf und Kirche aufgegeben worden waren, fackelte jemand sie einfach ab.

Auch Dave ist in einem Outport aufgewachsen, einem der kleinen Fischernester auf den Inseln, und mit dem Blick auf die alten Mauern kommen zögernd die Erinnerungen: Kingwell auf Long Island hatte eine anglikanische Kirche, eine Schule mit einem Raum, einen Coop-Laden und einen Saal, in dem Karten gespielt, Musik gemacht und getanzt wurde. Alle 35 Familien lebten direkt oder indirekt von der See: als Fischer im Boot, als Arbeiter beim Ausnehmen und Einsalzen des Kabeljau, als Tischler mit dem Bau von Hummerfallen und -kisten. Oder auch als Händler, der den Fang aufkaufte und gegen Lebensmittel und Gerät verrechnete: „Er kriegte es immer so hin, dass keine Familie je aus ihren Schulden herauskam.“ Die Kinder mussten früh Hand anlegen: Feuerholz spalten, Wasser herbeischleppen, Schafe hüten, Unkraut jäten. „Mit zwölf bedienten wir ganz selbstverständlich das Motorboot, wir trugen mehr Verantwortung als heute 16-, 17-Jährige.“ Und trotzdem: Das Leben verlief gelassener. An Sonntagen gingen Eltern mit ihren Kindern picknicken und kochten Muscheln am Strand. Erneuerte jemand das Dach seines Haus, ließen alle Männer ihre Arbeit liegen und halfen unbezahlt mit. Die Jugendlichen nutzten jede freie Minute, um Hockey zu trainieren. Gespielt wurde gegen andere Teams in anderen Outports, Anreise mit dem Boot.

Je älter Dave wurde, desto enger erschien ihm freilich seine kleine Welt. „Du weißt, da draußen ist mehr, und du musst es einfach sehen.“ Mit 17 verließ er Kingwell, um in St. John’s zur Schule zu gehen. Drei Jahre später zog auch seine Familie weg. Das Haus überließ sein Vater dem Kaufmann für 150 Dollar. Der verbrachte es auf leeren Ölfässern mit einem Schlepper zum Festland. Und kassierte seinerseits 9.000 Dollar dafür. Inselgeschichten, sagt Dave. Und lächelt versonnen.

In den letzten Jahren finden in verlassenen Dörfer immer häufiger „Reassemblements“ statt: Die ehemaligen Einwohner treffen sich zu Gottesdiensten unter freiem Himmel und Würstchen vom Grill, lassen alte Fotos herumgehen, die selbstbewusste junge Männer und braungelockte Frauen in Tanzkleidern zeigen, und singen die alten Lieder, die einst der Dorfpoet geschrieben hat. Nostalgie blüht, das Heimweh nach Zeiten, als man noch die Boote teerte und den Mädchen nachpfiff, da, wo jetzt allenfalls ein paar unscheinbare Fundamente an die einstige Ansiedlung erinnern.