stefan kuzmany über Alltag
: Das etwas geheimere Abendessen

Manchmal soll es halt exklusiv sein. Zu Besuch in einem Restaurant, dessen Adresse niemand kennt

Wohin zum Essen? Die ganze Woche hatte ich die immer gleichen Nudeln mit der immer gleichen Tomatensoße in unserer Kantine verzehrt. Es reichte. Es musste endlich mal wieder etwas Besonderes sein. Nicht mehr dieselben Gesichter der Kollegen. Und die der Kellner, spöttisch auf uns herabblickend, auf uns armetaz-Redakteure, die sich kein richtiges Menü leisten können, sondern ihr Mittagsmahl mit zwei Essensmarken der taz bezahlen. Und um Wechselgeld feilschen. Sie duzen uns grundsätzlich. Sie sagen nicht „Guten Tag“ oder „Was darf es sein?“. Sie sagen: „Suppe oder Salat?“ Es ist ein binäres System: Aus zwei Gerichten dürfen wir auswählen, und vorher gibt es entweder Suppe oder Salat. Preise stehen nicht auf dem kopierten DIN-A4-Zettel, der uns als Speisekarte dient. Alles kostet zwei taz-Marken. Und danach, egal was man bestellt hat, gibt es Nudeln.

Judith schien meine Rettung zu sein. Judith wohnt seit Urzeiten mitten in Berlin, bedient in einem In-Lokal, kennt jeden Club und alle Türsteher. Judith ist eine wunderbare Person, nur manchmal etwas überdreht. Aber das macht nichts, denn ich bin schrecklich langweilig, und das gleicht sich dann ganz gut aus. Judith wollte mit mir essen gehen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wo.

Ganz besonders in, habe ich mir sagen lassen, sind in Berlin zurzeit Restaurants, deren Adresse niemand kennt. In von der Gewerbeaufsicht unüberwachten Räumlichkeiten, die nur durch geheime Zugänge zu erreichen sind, floriert die geheime Gastronomie. Jeder hat schon davon gehört, aber niemand war jemals da. Selbst schmierigste Chefredakteure von Stadtmagazinen scheitern bei der Reservierung. Denn die gibt’s nur für Freunde.

Judith ist eine Freundin. Und zwar nicht nur meine, sondern auch die eines solchen Geheimgastronomen. Und heute Abend, verkündete sie mir, hatte sie einen Tisch in dessen geheimer Verköstigungsstätte reserviert: „Zweindzwanzig Uhr dreißig. Komm nicht zu spät. Und schreib ja nichts darüber!“ Ich versprach beides hochheilig und erschien pünktlich bei der angegebenen Adresse.

Eine unscheinbare Tür mitten in Berlin. Kein Schild, keine Schlange, davor: lauter freie Parkplätze. Hier? Hier. Zielstrebig klopfte Judith an die Tür, sofort wurde ihr geöffnet. Den Türsteher begrüßte sie mit Namen. Es gab eine kleine Theke im Vorraum, dahinter saß eine junge Frau in einer Army-Jacke, offenbar auch eine von Judiths alten Bekannten. „Wir haben oben reserviert“, sagte Judith, und die Army-Jacken-Frau zog ganz unten aus ihrer Theke eine abgegriffene Kladde hervor. Tatsächlich, da waren unsere Namen notiert. „Gut“, sagte die Army-Jacken-Frau, „der Code ist heute 2305. Und die Rautetaste nicht vergessen.“ Sie wies uns den Weg durch eine Tür, wir gingen eine kleine Treppe hinauf, oben befand sich eine weitere Tür. Sehr massiv. Mit Zahlenschloss. Wir tippten den Code ein und vergaßen auch nicht die Rautetaste. Mit einem Summen sprang die Tür auf. Eine weitere Treppe. Oben noch eine Tür.

Wie viele Stufen mochten wir schon gestiegen sein? War draußen bereits wieder Tag? Es gab keine Fenster. An der oberen Tür befand sich eine simple Türklingel. Wir klingelten. Eine junge Frau in einem goldenen Abendkleid öffnete uns. Judith kannte sie nicht, was mich überraschte. Sie wies uns den Weg zu unserem Tisch. Und dann waren wir endlich drin.

Vielleicht siebzig Leute saßen hier, aßen, tranken, unterhielten sich. Die Küche war offen, Stichflammen stoben aus Pfannen. Junge Frauen in aufregenden Kleidern räkelten sich auf Clubsesseln. An den Tischen parlierten vierzigjährige Anzugträger mit ihren Begleiterinnen. Ist der da drüben prominent? Nein, doch nicht. Oder doch? Nicht so auffällig rüberschauen. Egal. Höchst beeindruckend. Und wir waren dabei. Cooooool.

Dann näherte sich der Kellner. Ich bemerkte ihn zunächst gar nicht. Ich war zu cool. Dann bemerkte ich ihn. Aber nur als Kellner. Es dauerte noch zwei, drei Sekunden, bis ich erkannte, wer mich da bedienen wollte. Es war, und ich wollte es wirklich nicht glauben, der Kellner aus unserer Kantine. Genau derselbe Typ, der mir jeden Tag meine Nudeln brachte. Und sich hier einen lukrativen Nebenjob aufgetan hatte. Er reichte uns die Speisekarte. Es gab eine kleine Auswahl auf einem kopierten DIN-A4-Blatt, Preise standen nicht drauf. „Hast du taz-Marken dabei?“, fragte der Kellner.

Alles blieb gleich, der Ort, das Zahlenschloss, die Promis, die Frauen in ihren aufregenden Kleidern. Und doch zerstob in dieser Sekunde die ganze Illusion, um die sich die Betreiber des Lokals doch so liebevoll bemüht hatten: die Illusion, dass man sich hier am exklusivsten Ort von Berlin befände. Es war eben doch nur wieder so ein Ort, wo jemand an den Tisch kommt und einem einen Teller hinstellt.

Aber das Essen hat sehr gut geschmeckt.

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