Collagen-Idee „Bremen“

■ Der Belgrader Schriftsteller Dragan Velikic hat mit „Der Fall Bremen“ einen europäischen Roman geschrieben

Bremen also. Als Dragan Velikic vor einigen Jahren in diese Stadt kam, war es gewissermaßen eine familiengeschichtliche Wiederholung. Der Vater des 1953 in Belgrad geborenen Autors war im 2. Weltkrieg von den Deutschen „zwangsverpflichtet“ worden, Arbeitseinsatz auf einem Gut zwischen Oldenburg und Bremen. Aus der Geschichte sind (auch) Geschichten geblieben. Der kleine Dragan lernte die Stadt an der Weser kennen, als Ort, aber auch als Wort, dessen Klang eine spezifische Bedeutung hatte: „Stalag 42 Bremen. Eine Chiffre, die an eine rhythmische Figur aus einer exotischen Melodie erinnerte.“

Damals hatte er wohl nicht damit gerechnet, Bremen jemals selbst zu sehen. Doch genau hierhin verschlug es ihn, nachdem er eine Zeitlang Redakteur des legendären oppositionellen Belgrader Senders „B 92“ gewesen war und fortgehen musste aus Belgrad. Nun kehrt Velikic, der mittlerweile wieder in Belgrad lebt und in Berlin, zurück in die Hansestadt um aus seinem aktuellen Roman zu lesen, der „Bremen“ im Titel trägt.

Er erzählt von Ivan Bazarov, einer Art Alter Ego-Figur. Scheinbar altmodisch schreibt Velikic von „unserem Helden“ und reflektiert immer wieder über die Art und Weise, wie der Roman gebaut ist. Die Figuren sind „Figuren“, die von „Kulissen“ umgeben sind. Die Städte und Orte sind immer auch collagenartig präsentierte Ideen von Städten und Orten. Das schafft Distanz. „Der Fall Bremen“ ist eben kein (auto)biografischer Roman, er ist eher eine Phantasie über das Erzählen von Geschichten. Und von Geschichte.

Dem kleinen Ivan sind die Geschichten des Großvaters ein „Überlebensmittel“. Zur guten Nacht erzählt, nimmt er sie mit hinein in den Halbschlaf, in seine Träume. „Immer in der Gestalt des abwesenden Vaters unterwegs, der stets so alt war wie er, eroberte Ivan die möglichen Szenerien des Vaters und erstellte für ihn eine eigene Biografie, ein eigenes Gedächtnis. Ein Detail am Rande des Weges, wie Großvater Vladimir sie in seinen Geschichten zu erwähnen pflegte, bot Material für den Anfang, es genügte, dass sich Ivan in die Räume abstieß, die ihn lockten mit ihren ungewöhnlichen Namen, Düften und Klängen.“

Was Velikics Erzählen so faszinierend macht, ist, dass es ihm ein ums andere Mal gelingt, die Geschichten und das Nachdenken über Fiktion, Politik, Zeit und Raum gleichberechtigt zu behandeln. Die, von denen er schreibt – der amerikanische Spielwarenvertreter Felix Kastendiek, die Klavierlehrerin Olivera Ermolenko, der kosmopolite Straßenbahnfahrer Emil Kohot – scheinen wirkliche Menschen und zugleich Figuren in einem Erzählgerüst zu sein. Über mehrere Generationen und gesamteuropäisch erzählt, wirkt der „Fall Bremen“ ein wenig wie der kleine, aber weitaus konzentriertere Bruder von Hermann Brochs „Schlafwandler“-Projekt.

Aus zahlreichen Bildern, miniaturhaften Ausrissen und opulenten Gemälden lässt Velikic eine gigantische Collage entstehen, in deren Zentren immer wieder Ivan Bazarov auftaucht. „Sein ganzes Leben“, heißt es über ihn, „wird nichts als ein Lauschen sein, ein Abtasten der täuschenden Oberfläche des Alltags mit all seinen Sinnen, ein Aufspüren der Hülsen gesprochener Worte in der Tiefe des Gesteins, die jeder Archäologie entgehen, es sei denn, eine Archäologie der Archäologie nähme sie wahr.“

Nach „Danteplatz“ (1999) hat Velikic mit „Der Fall Bremen“ erneut einen bemerkenswerten europäischen Roman geschrieben. Und wieder hat er sich ein Stückchen weiter herangeschrieben an den schwierigen Ausgleich von Subjektivität, Fiktion und Wirklichkeit, an Topografie und Biografie.

Tim Schomacker

Dragan Velikic liest am Mittwoch, 22. Mai, um 20 Uhr im Ambiente, Osterdeich 69a, aus „Der Fall Bremen“.